Mit dem Tiber auf Augenhöhe. Ein Essay (Teil 4)

An dieser Stelle veröffentliche ich im allgemeinen kürzere Blog-Beiträge zu Aktualitäten in den Themen Biodiversität in der Stadt oder Klimaschutz. Zur Abwechslung stelle ich hier einen längeren Essay vor, der sich der Natur in der Stadt auf andere Weise, mit dem Tiber auf Augenhöhe nähert. In vier Teilen werden Sie viel über den Tiber erfahren, die Gründungsgeschichte von Rom und die Rolle, die der Fluss darin gespielt, über die Quelle der Nymphe Egeria und ihre Rolle in der Gründung der Ewigen Stadt, über die Funktionalisierung von Wasser durch die Römer:innen, die Instrumentalisierung des Flusses durch den Faschismus – und was diese Vergangenheit mit unserer Gegenwart zu tun haben könnte. Dies ist Teil 4 des Essays.

Ausgerechnet der Faschist Benito Mussolini kehrt in verquerer Weise zur Heiligkeit des Tibers zurück. Doch der Duce hatte dabei weniger vor, dem Flussgott Tiberinus zu huldigen, als vielmehr eine Götterdämmerung heraufzubeschwören, ganz Italien umzuformen, neu auszurichten und gar zu ‹retten›. Dazu gehörte die schummrige Verliebtheit in die Symbole der Schöpfungsgeschichte Roms, die dieses Imperium hervorgebracht hat.

Das im Ersten Weltkrieg gedemütigte Italien sollte „back to the future“, sollte sich an seine Ursprünge erinnern, durch Krieg abgehärtet werden und daraus eine gloriose Zukunft schöpfen. In sein Modernisierungsprojekt einverleibt hatte Mussolini zuvor die Kampfschreie des italienischen Futurismus: Maschinen, Technik und Beschleunigung. Der Künstler Umberto Boccioni etwas hatte Jahre zuvor diese allgemeine Zukunftsrichtung in der Bronze „Einzigartige Formen der Kontinuität im Raum“ bildhaft umgesetzt. Was ich in dieser Skulptur allerdings sehe, ist bedeutend weniger abstrakt, als der Titel annehmen lässt. Es ist die räumliche Darstellung eines Kriegers, um nicht zu sagen des Kriegsgottes Mars selbst, der in Riesenschritten den Raum zu durchschreiten scheint. Der Wind weht ihm um die Ohren.

Mars hat in der langen Geschichte Italiens auf seinem Marsch zur Grösse viele Opfer zurückgelassen. Es mag eine eher belanglose Beobachtung meines Aufenthalts in Rom sein, aber nirgends habe ich so viele Kriegsdenkmäler angetroffen wie in dieser Stadt. Für gefühlt jeden Erfolg und jede Niederlage in der antiken Geschichte des Römischen Imperiums, der Kriege im Mittelalter, des Risorgimento, des Kriegs in Äthiopien, der zwei Weltkriege usw. findet man Inschriften oder Tafeln an Bauten und Denkmälern oder wurden viele Plätze und Strassen benannt. Besonders innig ist die Heldenverehrung bei Niederlagen. Im „Parco della rimemberanza“ etwa gibt es nicht nur ein Kriegsdenkmal, sondern gleich mehrere. Und mit einem gewissen Unglauben lese ich, dass den gefallenen Soldaten und Studierenden der Universität La sapienza von Rom im Ersten Weltkrieg posthum eine „laurea per onore“, ein ehrenvoller Abschluss erteilt wurde.

Als ich in Rom das Gelände der Uni besuche, fällt mir zuerst dessen Nüchternheit mit seinen vielen Nutzbauten auf. Nichts ist gewachsen und historisch verspielt wie beispielsweise in der britischen Universitätsstadt Cambridge. Auf dem Hauptplatz glitzert mir eine blanke Wasserfläche entgegen, kein Teich, sondern eine neutrale Oberfläche. Dahinter hoch aufgerichtet steht die Bronzestatue einer Minerva. Zuerst wirkt sie einfach sehr ungewohnt auf mich: Ich hatte Minerva nicht mit einer Schlange und einem kleinen Drachen, der auf ihrem Haupt prangt, in Verbindung gebracht. Den Schild und Speer hingegen schon. Denn Minerva ist nicht nur die Göttin der Weisheit, sie ist auch die Schutzherrin von Städten und vielen Schlachten gewesen. Unmittelbar dahinter liegt ein architektonischer Riegel aus Kalkstein. In dessen Mitte, mit grossen, hohen quadratischen Eingangssäulen das Rektorat, rechts davon die „Facoltà lettere e filosofia“, links davon die „Facoltà di giurisprudenza“. Sauber und gigantisch alles und, wie ich sofort erkenne: faschistisch.

Die Gebäude wurden in den frühen 30er-Jahren gebaut und 1935 mit Pomp eröffnet. Die Minerva, ursprünglich als eine Säule geplant, wurde 1934/35 als Skulptur umgesetzt, für die die Göttin eine säulenartige Gestalt angenommen hat. In alarmistischer Pose wirft sie beide Arme in die Luft, einen mit Schild, den andern mit Schlange und Speer. Diese Minerva scheint zu etwas aufzurufen und schaut mit strengem Blick in die Ferne. Klar, dass die Bildung einen wichtigen Beitrag zu einem „Neuen Menschen“ beizutragen hatte, wie er Mussolini vorschwebte. Bereits 1917 habe er in „Popolo d’Italia“ geschrieben: „Das italienische Volk ist in diesem Augenblick eine Masse aus wertvollem Material. Man muss es schmelzen, es von seinen Unreinheiten reinigen, es bearbeiten. Ein Kunstwerk ist noch immer möglich. Es braucht eine Regierung. Einen Mann, der das Fingerspitzengefühl des Künstlers hat und die eiserne Faust des Kriegers. Einen sensiblen und willensstarken Mann. Einen Mann, der das Volk kennt, der das Volk liebt, es führt und es unterwirft – auch mit Gewalt.“[i]

Auch in unseren Zeiten werden wieder Kultur- und Identitätskämpfe ausgefochten. Vielleicht ist es für mich deshalb nachvollziehbar, wie damals das System Faschismus alle Werte umzuprägen und sich die Bildung zu unterwerfen versuchte. Mussolinis grössenwahnsinnige Vision forderte den absoluten Gehorsam seiner Bürgerinnen und Bürger. Von den damaligen 1200 Professoren soll sich nur eine Gruppe von zwölf geweigert haben, einen Treueschwur auf den Duce zu leisten. Letztere wurden alle entlassen. Doch bald darauf gab es eine „migrazione dei cervelli“[ii], wie es so schön auf Italienisch heisst. Der Wissenschaftler und Nobelpreisträger Fermi zum Beispiel nutzte 1938 den Nobelpreis für Mathematik, um mit seiner jüdischen Frau nach New York abzuwandern. Natürlich gibt es graduelle Unterschiede zwischen dem Versuch des Faschismus, den vor allem männlichen „neuen Menschen“ zu schaffen, und unserer Gesellschaft, in der der Wunsch nach Diversität und Individualität durch konservative ideologische Weltbilder aufs Korn genommen wird. Der Eifer heutiger Kulturkämpfer ist dennoch nicht zu unterschätzen.

Doch nun zurück zur Frage, worin die Beziehung von Mussolini und dem Tiber bestand. Der Duce hatte 1924 die Grenzen der Region, in der der Tiber entspringt, neu ziehen lassen und dafür gesorgt, dass die Quelle in den Bergen des Apennins nicht mehr in der Toskana, sondern in der Emilia-Romagna liegt, in Region seiner Geburt. Mussolini errichtete 1934 ausserdem eine Säule aus Travertin an der Quelle mit der Inschrift: „Qui nasce il fiume sacro ai destini di Roma.“ (Hier entspringt der Fluss, der dem Schicksal Roms heilig ist.) An drei Seiten der Säule sind Wolfsköpfe angebracht. Oben auf ihr thront ein mächtiger Adler, der nach Rom blickt. Alles − sowohl Wölfin wie Feldadler − sind Symbole des Römischen Imperiums und der Ewigen Stadt. Der Futurismus hatte den Duce angefeuert, aber noch mehr tat es ihm das Imperium unter Augustus an.

Mit einem einfachen Strich auf der Landkarte hat Benito Mussolini seinen eigenen geographischen Ursprung und denjenigen des Flusses gleichgeschaltet und sich damit als legitimen Nachfolger römischer Kaiser inszeniert. Diese Geste bezeugt zum einen die ungeheure Eitelkeit des italienischen Führers, aber auch sein propagandistisches Talent, fast schon seine Superpower, gepaart mit einem Hang zur Geschichtsklitterung. „Il Tevere“ hiess übrigens auch eine faschistische Tageszeitung, die von 1924 bis 1943 erschien und bei deren politischer Ausrichtung Mussolini auch seine Hand im Spiel hatte.

Tiberinus mag die Funktionalisierung von Wasser hingenommen haben. Er mag beobachtet haben, wie menschengemachte Bauten wie Aquädukte einen ansehnlichen Teil seiner Rolle für ein gieriges Rom übernahmen. Aber wenn sich der Flussgott Gehör verschaffen könnte, dann würde er wohl die Instrumentalisierung seiner Geschichte für faschistoide Zwecke bedeutend negativer bewerten. Denn Mussolini ging es nie und nimmer um den Tiber oder Tiberinus, um deren Leistung für die Gründung und das Aufstreben der Stadt und des Imperiums. Ihm ging es um die Spaltung von Funktion und Göttlichkeit. Nicht den Fluss, sondern seine Heiligkeit wollte Mussolini in seinen Marketing-Mix einbinden. Er wollte den Gott Tiberinus beerben und Augustus obendrein.

Ich habe im Verlauf meiner Auseinandersetzung mit Tiber und Tiberinus verstanden, wie wichtig Flüssen ihre Herkunft ist. Im Fall des Tibers ist es der Kalkstein des Apennins. Aber Flüsse, gleich wo auf dieser Welt, stehen für den Ursprung von Landschaften, Dörfern oder Städten. Sie entspringen einer Quelle oder einem Quellgebiet und fliessen von dort weiter, sich immer wieder von Neuem einen Weg suchend, gespeist durch andere Gewässer, die sich mit ihnen vereinigen, sich selbst verbindend mit noch grösseren Strömen, bis sie letztlich in einem der Weltmeere aufgehen. Flüsse sind durch ihre Herkunft und Reise durch die Landschaften, durch die sie fliessen, geprägt und haben umgekehrt diese gestaltet. Wenn Tiberinus also sagt: „Erinnere dich an uns“, dann spricht er über ein gigantisches Netzwerk von Tausenden von Lebensadern auf diesem Planeten. Sollen die Römer und Römerinnen doch glauben, dass der Tiber ihnen alleine gehört. Oder sich Benito Mussolini mit fremden Federn schmücken.

Ginge es nach mir, hätte der Flussgott alles Recht dazu gehabt, den Duce zu einer Salzsäule erstarren zu lassen. Oder gehört dieses Bild in eine andere mythologische Welt?

Ihr werdet auf den Ozeanen leben

Tiberinus hat mein Interesse geweckt und mich von meinem Schreibprojekt abgebracht. Denn er hat mich aus mindestens zwei Gründen fasziniert: Ein erster ist aus meiner Familiengeschichte geschöpft, ein zweiter ist eher ökophilosophischer Natur. Durch ihn erinnere ich mich an meine eigene Herkunft. Sie liegt in einer Ebene, in der zwei andere Flüsse fliessen, der Po und der Piave. Dieser Teil meiner Wurzeln stammt von meiner Mutter. Italien ist mein Mutterland und Italienisch meine Muttersprache, obwohl ich diese Sprache mehr schlecht als recht beherrsche. Auf eine etwas mäandrierende Weise habe ich mich meinem Erbe genähert, meinen etruskischen, sabinischen, römischen und vermutlich auch langobardischen, vandalischen oder gotischen Wurzeln. Doch so unergründbar der unterirdische Zusammenfluss von Tropfen und Rinnsalen von Wasser ist, bis er sich zum Bach formt, so wenig nachvollziehbar ist letztlich die Reise meiner Vorfahren durch die Jahrhunderte. Darum begnüge ich mich hier zum Abschluss lieber mit einigen ökophilosophischen Gedanken, zu denen mich Tiberinus und Egeria inspiriert haben.

Ich habe mich zunächst gefragt, welchen Nutzen es haben kann, in die Vorgeschichte oder eher in die Mythologie des frühen Roms zurückzublenden und sich an eine Flussgottheit und eine Nymphe zu erinnern. So auf Anhieb: keinen direkten. Brauchen wir angesichts des Klimawandels und des Verlusts der Biodiversität nicht auch einen „Neuen Menschen“, könnte man dennoch fragen, einen ökologischen, der sich der Wichtigkeit von Flüssen, Quellen, Grundwasser oder Meeren bewusst ist? − Vielleicht schon, aber nicht einen Menschen, der sich die Erde untertan macht, keinen selbstbezogenen Menschen, der sich ins Zentrum des Universums stellt. Im Gegenteil: Heute muss es um die Ko-Kreation zwischen Natur und Menschheit gehen, damit sich die Natur ihren Raum zurückerobert und sich die Menschheit in das grössere Projekt der Regeneration des Planeten einordnet.

Die Naturwissenschaften haben uns beigebracht, wie die Biosphäre und die Atmosphäre funktionieren. Aber rein kognitives Wissen und empirische Daten reichen nicht, um eine Passion und den Wunsch zu entfachen, die Natur zu respektieren. Haben die Römerinnen als Erste in grossem Stil Wasser funktionalisiert, so hat die moderne Wissenschaft es endgültig entmystifiziert. In diesem Zusammenhang kann ein Vergleich zwischen früher und heute produktiv werden. Man stelle sich nur mal vor, dass sich unsere Führungspersönlichkeiten durch Träume oder Gespräche mit der Essenz von Wasser, Wäldern und Wiesen zu gesellschaftlich, wirtschaftlich und ökologisch gewinnbringenden Politiken und Massnahmen bewegen lassen. Wem Träume zu diffus sind und wer nicht an Gespräche mit Flussgöttern oder Nymphen glauben will, der könnte sich von der Geschichte zu Zukunftsvisionen inspirieren lassen.

Aktuell sieht die Bilanz jedoch nicht gut aus, wenn es um eine gelebte Ko-Kreation von Natur und Menschheit geht. Naturgeister haben in einer Jahrtausende alten schamanischen Praxis noch ihren Platz, getragen von einer kleinen Gruppe von Sonderlingen und Romantikern, wie man sie heute vielleicht herabsetzend nennen würde. Und natürlich in Legenden, Sagen und Märchen für Kinder spielen Naturgeister eine Rolle, dort vor allem für deren moralische Entwicklung. Gottheiten und Nymphen aller Art sind Figuren, die durch unsere Popkultur geistern, von Walt Disney und Co. an die jeweiligen Trends angepasst. (Während ich diesen Text schreibe, erregt gerade eine kleine schwarze Meerjungfrau die Gemüter, die der dänischen nachempfunden ist. Denn eine − selbst wohlgemeinte − Aneignung einer weissen Märchenfigur wird, wie in den oben erwähnten Kulturkämpfen, zum Streitobjekt.) Mit Symbolen oder Naturmetaphern kommen wir zumeist klar. Das haben uns viele Dichter und Dichterinnen vorgelebt. Die Schönheit der Natur zu besingen, ist immerhin ein Anfang.

Für Erwachsene und mehr noch für Bildungseliten, die mit einem westlichen Wissenschaftsverständnis aufgewachsen sind, gehören Tiberinus und Egeria jedoch in die Welt einer weit zurückliegenden Mythologie. Immerhin anerkennt heute eine internationale Gemeinschaft von Naturschützenden, dass indigene Völker und Stämme über Traditionen und das Wissen verfügen, um natürliche Ressourcen nachhaltig zu bewirtschaften. Vor vielen Jahren bin ich in diesem Zusammenhang den Hopi-Indianern im Südwesten der USA begegnet: Ihr „Gott“ hinterliess dem Stamm Prophezeiungen, die bis weit in die Neuzeit reichen. So wurden ihnen beispielsweise Vögel aus Eisen vorausgesagt, die am Himmel fliegen würden. Handkehrum reicht die Überlieferung bis in die Ursprünge der Menschheit zurück. Unserer aktuellen Welt gingen drei Vorgängerinnen voraus. Als die Hopi in den 60er-Jahren die ersten Anzeichen dafür beobachteten, dass sich die Natur in einer bedrohlichen Art und Weise verändert, deuteten sie dies als Vorboten des kommenden Weltuntergangs. Abgesehen davon, dass die Hopi Meister einer zutiefst ökologischen Lebenshaltung sind, fand ich es bemerkenswert, dass sie daraus einen moralischen Imperativ ableiteten und ihre Erkenntnisse nicht einfach für sich behielten: Sie versuchten mehrmals, an die UNO zu gelangen und ihre Sorge über den Zustand des Planeten mitzuteilen.

Was mich also so fasziniert, ist der ungebrochene zeitliche Horizont. Stämme, beispielsweise in Süd- oder Nordamerika, haben einen Heimvorteil, den wir in Europa kaum mehr haben. In Europa haben wir den Bezug zu, sagen wir mal, keltischem oder römischem Wissen so gut wie verloren. In den USA hingegen oder in Australien entfacht das Erbe indigener Völker ein neues Verständnis für die Natur. Bis hinein in die wissenschaftlichen Gemeinschaften der Ökologie, Evolutionsbiologie, Philosophie oder Anthropologie wird eine ausschliesslich dualistische Betrachtungsweise von Wissenschaft mit ihrer Trennung von Objekt der Untersuchung und Subjekt des Forschenden diskutiert und relativiert.

Autorinnen in den USA oder in Australien besinnen sich etwa auf Konzepte der „kinship“, der Verwandtschaft von Menschen mit Tieren, Pflanzen, Gewässern oder Bergen. Der Fluss im eigenen Dorf ist einem so nahe wie ein Onkel oder die Grossmutter. Unlängst habe ich von einer australischen Ökophilosophin folgende Geschichte gehört: Sie hielt die Hochzeit ihrer Tochter am Ufer des lokalen Flusses ab. Es sei „second nature“, selbstverständlich für sie geworden, den Fluss als Teil ihrer Familie zu betrachten. Wenn der Fluss zu einem Gast unter anderen Hochzeitgästen wird, ist es nicht mehr weit, sich Zeit für ein Gespräch mit ihm zu nehmen.

Ich will nicht sagen, dass wir Flüssen oder Quellen wieder Tempel oder Nymphäen bauen sollten. Aber um auf diesem Planeten zu überleben, müssen wir uns die Naturgesetze auf einer tiefgründigen Ebene zu eigen machen. Wir alle können nachvollziehen, dass wir zu 70 Prozent aus Wasser bestehen, dass was aussen auch in uns drin fliesst Wenn wir die oben beschriebene Trennung aufheben, dann ist eine ganz andere Form der Bezogenheit mit dem Ökosystem möglich, in dem wir leben und an dem wir teilhaben. Wenn wir eine gesunde Umwelt für alle, für Tiere, Pflanzen, Pilze, Gewässer und Menschen aufrechterhalten, dann zollen wir im Grunde einem Tiberinus oder einer Egeria Respekt. Nicht, weil wir uns Göttern und Göttinnen unterwerfen wollen, sondern weil wir ohne funktionierende Ökosysteme unser eigenes Überleben gefährden.

Was also, wenn der Tiber, die Seine, die Aare oder die Donau nicht nur mit mir sprechen würden, sondern mit allen, die bereit sind zuzuhören? Wie wird jemand vom Spaziergänger mit oder ohne Hund oder von einer Konsumentin von Naturidylle zwecks Entspannung zu einem Partner auf Augenhöhe? Eine solche Person tritt gleichsam durch den Bilderrahmen hindurch in das Ökosystem ein, das sie gerade betreten hat. Sie betrachtet nicht nur, sie nimmt teil. Sie überschreitet damit die Schwelle in Richtung einer Erfahrung von „Hypernatur“. Denn wenn wir allen Lebewesen Lebendigkeit, Bewusstsein und gar Handlungsfähigkeit zusprechen und wenn wir ein Teil von ihr sind, dann wird die ganze natürliche Umwelt plastischer, packender und prallvoll mit Anknüpfungspunkten zum eigenen Selbst.

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Der Fluss Tiber hat gesehen, dass ich ihn auf meinen Spaziergängen durch Rom beobachtet habe. Genauso hat er mich beobachtet und mich in seine Welt eingeladen. Der Tiber hört den Vögeln zu, die am Ufer singen. Er spürt den Wind über seine Oberfläche gleiten und verwandelt ihn in Wellen. Er weiss, wo die Fische schwimmen, die Möwen fischen und wo ein Felsbrocken oder eine Insel in seinen Fluten liegt. Er umschmeichelt beide mal sanft, mal heftig. Er urteilt nicht, er beobachtet nur.

Genauso kennt Tiberinus die „barboni“, die Flüchtlinge und Heimatlosen, die an seinem Ufer in Rom notdürftig campieren. Der Flussgott Tiberinus kann sich mit den Entwurzelten identifizieren, auch er lagert gerne am Ufer des Tibers. Er passt sich der Zeit an. Doch er zeigt mir, dass auch er im Feld der Prophezeiungen versiert ist. Er macht für meine menschlichen Ohren eine letzte zugespitzte Aussage, als ich mich am Ponte Milvio von ihm verabschiede: „Ihr werdet in der Zukunft auf den Meeren leben. Geht respektvoll mit euch um.“

Ich weiss nicht recht, ob mich diese Äusserung beruhigen oder sorgen soll. In Zeiten der fortschreitenden Erhitzung der Atmosphäre spielen die Gewässer und Meere eine entscheidende Rolle. Während ganze Landstriche austrocknen, werden andere übermässig viel Regen abbekommen. Durch das Schmelzen des Ewigen Eises wird der Meeresspiegel steigen und werden viele Küstenstädte in den Meeren versinken. „Ihr werdet in der Zukunft auf den Meeren leben“, damit zeichnet Tiberinus ein Zukunftsbild, das ein Quäntchen Hoffnung enthält. Vorausgesetzt, dass die Menschheit den Übergang in diese Zukunft mit weniger Wasser in Flüssen und Bächen und Siedlungen auf den Meeren in gegenseitigem Respekt meistert, könnte ein Leben nach dem Klimawandel gelingen.

 

Endnoten

[i] Betz, A. (2010). Der „Neue Mensch” im Italo-Faschismus. Deutschlandfunk. https://www.deutschlandfunk.de/der-neue-mensch-im-italo-faschismus-100.html.

[ii] Die Abwanderung von Talenten oder „brain drain“.

 

Hier geht es zum Teil 1 des Essays:

Mit dem Tiber auf Augenhöhe. Ein Essay (Teil 1)

Hier geht es zum Teil 2 des Essays:

Mit dem Tiber auf Augenhöhe. Ein Essay (Teil 2)

Hier geht es zu Teil 3 des Essays:

Mit dem Tiber auf Augenhöhe. Ein Essay (Teil 3)

About the Author
Seit Dezember 2020 veröffentlicht Claudia Acklin alle drei Wochen eine Episode ihres Podcasts. "Nature and the city - Die Natur und Stadt" beschäftigt sich mit Stadtökologie, Biodiversität und dem Klimawandel und dessen Auswirkungen auf die Stadtbewohner. - Claudia Acklin studierte Designmanagement, Sozialpädagogik und Journalismus und arbeitete mehr als 12 Jahre als Journalistin und Dokumentarfilmerin. Bis 2015 war sie hauptsächlich im Bildungs- und Forschungsbereich tätig und entwickelte neue Studiengänge wie den BA Design Management, International (DMI) oder eine Forschungsgruppe zu Design Management und Design Innovation an der Hochschule Luzern - Design & Kunst. Sie ist Gründungsmitglied des Vereins "Swiss Design Transfer", einem regionalen Zentrum für Designpromotion und -unterstützung für KMU. Und sie war die Gründerin und erste Geschäftsführerin des Creative Hub, einer Plattform zur Unterstützung von Start-ups im Schweizer Designsektor. Sie hat einen Doktortitel in Design von der Lancaster University/Imagination mit besonderem Schwerpunkt auf Innovation und Designmanagement. Von 2016 bis Mitte 2022 war sie die Leiterin der Geschäftsstelle der ausserparlamentarischen Kommission Schweizerischer Wissenschaftsrat SWR: **************** Since December 2020, Claudia Acklin publishes an episode of a podcast every three week. "Nature and the city" deals with urban ecology, biodiversity and climate change and the implications of the latter for citizens living in cities. - Claudia Acklin studied design management, social pedagogy and journalism; she worked for more than 12 years as a journalist and documentary filmmaker. Until 2015, she has mainly been working in the educational and research field and developed new study programmes such as the BA Design Management, International (DMI) at Lucerne School of Art and Design or a research group on design management and design innovation. She also is a founding member of the association “Swiss Design Transfer”, a regional centre for design promotion and support for SMEs. And she was the founder and first managing director of the Creative Hub, a platform to support start-ups of the Swiss design sector. She holds a PhD in design from Lancaster University/Imagination with a special focus on innovation and design management. From 2016 until mid 2022 she was the head of the secretariat of the extra-parliamentary commission Swiss Science Council SSC.

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