
An dieser Stelle veröffentliche ich im allgemeinen kürzere Blog-Beiträge zu Aktualitäten in den Themen Biodiversität in der Stadt oder Klimaschutz. Zur Abwechslung stelle ich hier einen längeren Essay vor, der sich der Natur in der Stadt auf andere Weise, mit dem Tiber auf Augenhöhe nähert. In vier Teilen werden Sie viel über den Tiber erfahren, die Gründungsgeschichte von Rom und die Rolle, die der Fluss darin gespielt, über die Quelle der Nymphe Egeria und ihre Rolle in der Gründung der Ewigen Stadt, über die Funktionalisierung von Wasser durch die Römer:innen, die Instrumentalisierung des Flusses durch den Faschismus – und was diese Vergangenheit mit unserer Gegenwart zu tun haben könnte.
Mit dem Tiber auf Augenhöhe
Der Rote Pfeil hat mich eben auf das Gleis im Bahnhof Roma Termini ausgespuckt. Ich stehe nach einem wohligen Dösen im Polster des Zugs unvermittelt in einer lärmigen Menschenmenge. Von hinten wird geschubst, vorne ist der Weg versperrt, weil sich jemand nach den Strapazen im Zug gleich eine Zigarette anzünden muss. Langsam saugt mich die Menge vorwärts durch verschiedene Hallen hindurch und schliesslich auf den Busparkplatz. Als ich endlich müde an meiner Station am Rande des Villaggio Olimpico ankomme, geht ein starker Regen nieder, der bald darauf in Hagel übergeht. Es scheint nicht aufhören zu wollen. Uffah, würden Italienerinnen sagen… Mit diesem stürmischen Anfang meiner langen und minutiös geplanten Romreise hatte ich nicht gerechnet. Später irre ich durch die Strassen des Quartiers, in dem Anfang der 60er-Jahre die Olympioniken wohnten, bis ich endlich mein B&B finde. Dort ist noch kein Ausruhen möglich, denn die Gastgeberin quatscht mich voll mit Bestimmungen und mit Erklärungen, weshalb weder der Fernseher noch der Storen funktioniert.
Meine paar Sachen sind schnell ausgepackt. Ich brauche dringend Luft, damit meine Seele mit meinem Körper aufholen kann. Ich spaziere durchs Dorf, durch die Via Argentina oder die Via Turchia oder die Via Olanda in Richtung Tiber. Nahe am Villaggio Olimpico muss der Ponte Milvio liegen, eine der ältesten Brücken von Rom. Und da steht sie auch – geschichtsträchtig auf groben Brückenpfeilern, unten aus antikem Travertin, oben über die Jahrhunderte mehrfach renoviert. Ich lehne mich über das steinerne Geländer und schaue auf den Tiber hinab. Der Fluss fliesst hier überraschend lebendig und verspielt dahin, Möwen sitzen auf kleinen Flussbänken und die Sonne wirft in der Abenddämmerung rötliche Strahlen auf die Wellen. Ich entspanne mich und lasse meinen Blick schweifen. Ich bin voller Vorfreude, als sich plötzlich jemand neben mich stellt, näher als es die Höflichkeit gebietet. Ich sehe zuerst ein paar alte nasse Lederschuhe, dann eine ebenso feuchte Hose, Jacke, Bart und tröpfelnde Haare.
Dieser alte Mann muss wohl in den Regen gekommen und, nicht wie ich, untergestanden sein. Aber ehrlich gesagt, ist alles an ihm so nass, als hätte er eben mit Kleidung geduscht. In der einen Hand hält er etwas Schilf, mit dem er sich wohl gegen den Regen zu schützen versuchte. Soll ich weiter wegrücken, frage ich mich? Ich entscheide mich dagegen, denn eben neu in der Stadt angekommen will ich nicht unhöflich wirken. Er schaut ruhig und voller Stolz über den Tiber und sagt: „Ohne mich würde es diese Stadt nicht geben.“ Überrascht schaue ich ihn nochmals von der Seite an und bemerke eine gewisse Blässe in seinem Gesicht und eine Kühle, die von ihm auszugehen scheint. Wenn das kein Lokalpatriot ist … Er bemerkt meinen skeptischen Gesichtsausdruck, lässt sich jedoch nicht davon beirren und doppelt nach: „Ich habe diese Stadt mit aufgebaut.“
Ich weiss nicht so recht weshalb, aber ich fühle ein starkes Ziehen in der Magengegend. Auch mein Herz beginnt schneller zu schlagen. Selbst als sich der seltsame alte Mann abwendet und langsam davonzieht, habe ich ein Gefühl, als hätte ich einen Geist gesehen. Entgegen jeglicher Logik beschäftige ich mich mit dem Unsinn den er eben erzählt hat. − Was war denn das? Wer war das? Und was genau wollte er mir mitteilen? – Doch dann bummle ich weiter und entdecke auf dieser historischen Brücke weiter vorne an einer eisernen Kette viele „locchetti d’amore“, Schlösser, die Liebespaare hier hinterlassen haben. Schliesslich ist Roma rückwärts buchstabiert Amor, die Stadt der Liebe. Das behaupten natürlich auch Paris oder London oder Amsterdam. Aber es tut gut, wieder in der Normalität angekommen zu sein. Ich ziele Richtung Pizzeria.
Offenbar hat mich der „barbone“ – der italienische Begriff für Obdachloser –, wie ich ihn am nächsten Morgen nenne, dann doch weiter beschäftigt. Er tauchte in der ersten Nacht im Villaggio Olimpico in meinem Traum auf. Wieder trieft er von Wasser, seine durchtränkten Schuhe scheinen beim Gehen zu gurgeln und seine Haut hat eine marmorne Ausstrahlung. In meinem Traum – oder wohl eher Albtraum – klingt es gehässig, wenn er sagt: „Ohne mich kein Rom.“ So, als wäre er frustriert darüber, dass ich ihm nicht glaube, und als hätte ihn mein mitleidiges Lächeln auf dem Ponte Milvio verletzt.
****************
Ich bin wegen eines Schreibprojekts nach Rom gekommen. Eine Kurzgeschichte oder ein kurzer Roman soll es werden. So genau weiss ich das noch nicht. Die Geschichte, die eben von einer Liebe, von Amor in Roma handeln soll, existiert bereits, aber es fehlen die Orte, das Licht, die Gerüche und die Geschmäcker dieser Stadt. Früh morgens mache ich mich frohgemut auf den Weg ins Zentrum, ausgerüstet mit Notizblock und Kamera und ohne klares Ziel. Mein Hochgefühl ist von kurzer Dauer, denn dieses Mal bin ich über die Unberechenbarkeit des öffentlichen Verkehrs irritiert. Ich nehme schliesslich entnervt den ersten Bus, der nach langer Wartezeit an der Haltestelle eintrifft. Kurzerhand steige ich einige Stationen später beim Castel Sant’Angelo wieder aus. Wieder Menschenmassen. Gefühlte Tausend (amerikanische) Touristen und Touristinnen drängeln am Fussgängerstreifen. So fühlt sich „overtourism“ an, wie man auf Englisch sagt, Massentourismus. Und dies im März, fast noch im Winter.
Vor dem Kastell sitzt auf dem steinernen Geländer, das das Zentrum der Stadt gegenüber dem Tiber abgrenzt, seelenruhig eine Möve und schaut dem Treiben zu. Sie weiss, dass sie „highly instagrammable“ ist und lässt Fotografen bis auf 30 cm Nähe heran. Auf mich wirken Position und Blick der Möve eher höhnisch, so als würde sie auf den alltäglichen Irrsinn dieser Leute herabblicken. Ich fliehe die steile Treppe zum Tiber hinunter und – bin schockiert. Das künstliche Flussbett. Hohe Mauern, wohl gute zwölf Meter hoch. Auf beiden Seiten des Tibers. Neben dem Fluss hat es gerade noch Platz für einen Spazier- und Fahrradweg und für viel Zivilisationsschutt, der sich im Gebüsch seiner Ufer verfängt. Der Fluss wird hier nicht nur gezähmt und diszipliniert. Mehr noch: Der Tiber wirkt unglücklich und herabgestuft. Aus dem Leben der Römer und Römerinnen verdrängt, ist er eine Nebensache.
Einen Tag später stehe ich während einer meiner Streifzüge auf der Kreuzung der Via Quirinale und Via delle Quattro Fontane, bei der in jeder Ecke ein Brunnen mit Skulptur steht. Mein Blick wird magnetisch von jener Nische angezogen, in der das Abbild eines bärtigen Mannes mit langem Haar zu sehen ist, der mit einem Füllhorn im Arm unter einem Feigenbaum liegt. Von Reben fliessen gleichsam Trauben auf ihn hinab. Im Hintergrund schaut die römische Wölfin aus der Skulptur. Es ist ein majestätisches Bild des Müssiggangs und der Fruchtbarkeit.
Mir stockt der Atem. Mit diesem Bart und langem Haar sieht er wie die jüngere Version meines „barbone“ aus. Doch in dieser Nische liegt ein Gott symbolisch am Ufer des Tibers. Sein Name ist Tiberinus, wie ich lese. Er ist nicht nur jünger als derjenige, den ich am Ponte Milvio und im Traum getroffen habe, er ist auch imposant. Hier tritt mir der Obdachlose nicht nur als eine poetische Allegorie für den Tiber entgegen. Er ist nicht nur gurgelndes Wasser aus nasser Kleidung, sondern ein Repräsentant des Tibers, sozusagen sein Kommunikationschef. Als die Skulptur entstand, wurde Tiberinus wohl noch in Ehren gehalten. Nun kann ich mir vorstellen, dass der alte Mann recht hatte mit seiner Frustration. Vielleicht hat Tiberinus wirklich mitgeholfen, eine Stadt und damit ein Imperium zu gründen.
Für Imperien und Nationen ist Geographie Schicksal. Der Fluss trägt Wasser in eine Stadt, was den Transport von Gütern ermöglicht und damit den schwungvollen Handel mit weit entfernten Gegenden dieser Welt. Ohne den Fluss gibt es weder Macht noch Wohlstand. Er bewässert die Felder der Bauern genauso wie die Gärten begüterter Patrizier, die im alten Rom ihren Reichtum mit Wasserspielen und Nymphäen vorführten. Doch dann erinnere ich mich an das Erlebnis am Castel Sant’Angelo und denke unvermittelt: „Tiberinus, du hast diese Stadt mit aufgebaut, aber was ist aus dir geworden?“ Ich wäre wohl auch beleidigt und verstehe: Tiberinus kämpft um seine Reputation.
Ich entscheide in diesem Moment, mich auf eine Spurensuche zu begeben. Ich will den Einfluss des Flussgottes auf die Gründungsgeschichte Roms verstehen. Dafür lassen sich sicherlich Belege finden. Doch die Behauptung von Tiberinus geht noch weiter: Er sei nicht nur Handlanger und Dienstleister, er ist der Meinung, dass er der Auslöser dieser Entwicklung sei, dass er im vollen Bewusstsein seiner Rolle die Geschichte Roms ins Rollen gebracht habe. Ob ich dazu je Aussagen werde machen können? – Ich weiss nicht, ich bin ja nicht Metaphysikerin von Beruf. Und ich will auch nicht wie eine Verrückte einen triefenden Flussgott im Schlepptau durch die Stadt ziehen. Doch ich will Neues wagen und die Perspektive wechseln. Ich will die Ewige Stadt aus der Sicht des Tibers erkunden. – Und unversehens habe ich das Gefühl, im Fluss und mehr als nur eine Touristin zu sein. Ich werde es fliessen lassen, mich traumwandlerisch fortbewegen, von Erfahrung zu Erlebnis und von dort ab und zu vielleicht auch zu Erkenntnis.
Ohne mich kein Rom
Es ist nicht ungewöhnlich, dass der Tiber oder genauer der Flussgott Tiberinus, der über ihn wacht, mit Menschen spricht. Er hat dies in der Vergangenheit öfters getan. Er hat sagenhaften Persönlichkeiten oder den ersten Königen Roms richtungsweisende Weissagungen gemacht und hat gar direkt in die Gründungsgeschichte Roms eingegriffen. Nebenbei: Es ist anzunehmen, dass sich der Flussgott Tiberinus, der durchaus Machtbewusste, auch mit Hirten, Fischern oder Bäuerinnen unterhalten hat – oder wie schon erwähnt mit ahnungslosen Touristinnen. Denn der Geist weht, wo er will.
Ich tauche ein in eine Epoche, als die Götter noch unter den Menschen wandelten, sie sogar anleiteten und führten. Eine Zeit, in der es nur so von Halbgöttern und Heldinnen wimmelte, die sich auf dem Gebiet des heutigen Italiens ein Showdown lieferten. So erzählen uns dies die Geschichtenerzähler und Dichter. Zum Beispiel Vergil: Er hatte während den Anfängen der Kaiserzeit – also nach den ersten mythischen Königen und der Römischen Republik – von einem der Grössten, von Kaiser Augustus den Auftrag erhalten, ein Epos zum Ruhm seiner Herrschaft zu schreiben. Vergil verfasste jedoch ein mehrbändiges Gedicht zur Gründungsgeschichte von Rom. Damals war ein Schöpfungsmythos notwendig, um dem aufstrebenden Rom zu versichern, dass es nicht nur eine Kopie griechischer Vorbilder war, sondern dass es das Zeugs zu einem eigenen Imperium hatte. Vergil arbeitete ab 29 v.Chr. zehn Jahre lang und bis zu seinem Tod daran. Die mythischen Anfänge von Rom lagen damals schon rund 725 Jahre zurück.
Vergil weiss zu berichten, dass der Flussgott Tiberinus Äneas im Traum erschienen ist und ihm beschied, dass sein Sohn Askanius dreissig Jahre später Alba, die Mutterstadt Roms, gründen würde. Diese sollte unter jenen Eichen des Tiber-Ufers zu stehen kommen, bei denen Äneas zuvor in tiefen Schlaf verfallen war. Er war, wie man heute sagen würde, ein Kriegsflüchtling aus Troja und wie sein einstiger Feind Odysseus durch den Mittelmeerraum hin und her geschleudert worden. Tiberinus kündigt im Traum an, dass Äneas nach dem Erwachen zum Zeichen der Richtigkeit seiner Prophezeiung eine Wildsau mit dreissig Frischlingen unter eben diesen Eichen finden würde. Dem ist in der Tat so, und Äneas opfert auf Geheiss des Flussgottes das Mutterschwein und sämtliche Frischlinge der Göttin Juno, die ihm seit dem Weggang von Troja das Leben zur Hölle gemacht hat.
Ich lese das Epos von Vergil nicht selbst, die Lektüre einiger weniger Hexameter und meine Erinnerungen an den Lateinunterricht genügen, um mich davon abzubringen. Aber ich nehme später zu Hause eine alte Ausgabe von Gustav Schwabs „Die schönsten Sagen des klassischen Altertums“ aus meinem Büchergestell und durchforste Schwab die Äneis nochmals, mit der er Vergils zwölf Bücher in eine vereinfachte Form gebracht hat. Im Vorwort von 1837 schreibt Schwab: „Die ÄNEIS hat dem Verfasser am meisten zu schaffen gemacht. Hier die Längen abzuschneiden, ohne das Ziel des Weges selbst unzugänglich zu machen, all jene Zutaten ersonnener Volkssage, die nach einer Illias und Odyssee in ihrem prunkenden Scheine selbst einem Kinde fühlbar werden müssten, zu entfernen, ohne den Zusammenhang der originellsten und lieblichsten Erfindungen, die bald einen Teil der poetischen Geschichte des Gedichtes, bald unschätzbare Episoden bilden, unerkennbar zu machen oder gar zu zerstören − dies empfand der Bearbeiter als keine kleine Aufgabe, zumal da dieselbe noch von keinem modernen Erzähler der Sagen des Altertums versucht worden war. Sein Bestreben ging dahin, durch Zusammendrängen wesentlicher Schönheit dem kunstvollen Werke des Römers für die Jugend einen Reiz der Neuheit und gewissermassen der Kurzweiligkeit zu geben, den man im Originale vergebens sucht.“[i]
Dass Schwab für „Frauen und Kinder“ geschrieben hat, zaubert ein Schmunzeln auf meine Lippen, denn dann bin ich ja seine Zielgruppe und ermächtigt, seine Sagen aus dem Büchergestell zu nehmen. Aber etwas frech finde ich den Vorwurf Schwabs an Vergil dann doch, dass Letzterer nicht für Kinder geschrieben haben soll. Warum würde er dies überhaupt wollen, war seine Absicht doch eher, ein politisches Werk zu verfassen, das die hart umkämpften (göttlichen) Ursprünge und Umrisse des römischen Reiches in sagenhafter Form darstellen wollte.
Einige Details aus Schwabs Zusammenfassung möchte ich besonders hervorheben. Erstens: Den Trojaner Äneas beschreibt Schwab als einen der „ersten Sprösslinge der alten Heldengeschichten“, „deren Ahnen zum Teil Götter und Göttersöhne waren“. Äneas führt mit seinen Verbündeten, den arkadischen Pelasgern einen Krieg gegen „ganz Italien“, eine wahrhaft heldenhafte Leistung. Viele Völker verfügen über Kosmologien oder Mythen, in denen Götter und Göttinnen unter Menschen solange unterweisen, bis sich Letztere ohne göttliche Intervention weiterwursteln können.
Zweitens: Die Mutter von Äneas ist Venus, er ist also zur Hälfte der Spross einer Gottheit. Er erhält von seiner Mutter einen durch ihren Ehemann Vulcanus gefertigten Schild für den Krieg gegen die Latiner und Etrusker. Der Schild ist mit wunderschönen Szenen dekoriert, die Äneas wie ein Kind ein Bilderbuch betrachtet. Er kann sich aber keinen Reim auf die Bilder machen. Denn den Schild zieren Szenen des zukünftigen Roms wie die Geschichte von Romulus und Remus, die Kämpfe der ersten römischen Könige, selbst der spätere Kaiser Augustus ist darauf zu sehen. So hat Vergil den Wunsch seines Kaisers, ihn als Helden zu verewigen, doch noch umgesetzt.
Drittens: Der Flussgott Tiberinus empfiehlt Äneas, sich mit dem Fürsten Evander der aus Griechenland stammenden Pelasger zu verbünden, die ebenfalls im Streit mit den Stämmen der italischen Halbinsel liegen. Tiberinus erteilt Äneas einen strategischen Ratschlag, den er befolgt. Der Flussgott greift also ins Schicksal von der italischen Halbinsel ein und unterstützt damit zwei Volksgruppen, die nicht aus diesem Land stammen, sondern entweder nach Italien migriert sind wie die Pelasger oder aus fernen Landen auf der Flucht sind wie die Trojaner. Er scheint sich weder vor Juno, der Feindin des Helden zu fürchten, noch Venus, der Mutter von Äneas verpflichtet zu sein, sondern verfolgt eine eigene Agenda. Der Flussgott leitet damit eine Zukunft ein, in der der Fluss Tiber eine zentrale Rolle spielen wird.
Viertens: Nach dem Opfer der Wildsau und ihrer dreissig Frischlinge reist Äneas auf dem Fluss weiter. Der Tiber, vom Flussgott gebändigt, liegt glatt und eben da wie der Spiegel eines Landsees. „Die Fluten selbst staunten, und der Ufer-Wald wunderte sich, als sie bunte Verdecke und Männer mit hellen Schilden den Strom fast ohne Ruderschlag heraufziehen sahen“, schreibt Schwab. Weitere Akteure aus der Natur betreten den Raum – die Fluten des Tibers und der Ufer-Wald – und damit erweitert sich das Personal der Gründungsgeschichte von Rom. Neben Göttern und Halbgöttern, Fürsten und ihren Untergebenen und Flussgott Tiberinus gibt es den Fluss Tiber selbst und die ihn umgebende Natur. Wie Sedimentschichten liegen verschiedene religiösen Phasen übereinander, die unterschiedlichen Gesetzmässigkeiten und Werten folgen, matriarchalen wie patriarchalen. An der Basis und als unterste Schicht finden wir animistische Gottheiten für Flüsse und Landschaften, Pflanzen und Tiere, Himmel und Erde. Und ich frage mich, ob dieses älteste aller Gesetze, „the law of the land“, nicht zu Recht Anspruch darauf hat, Geschichte geschrieben zu haben.
Die amerikanische Archäologin Gretchen E. Meyers kommt ebenfalls zum Schluss, dass der Flussgott Tiberinus ein aktiver Gestalter der Entstehungsgeschichte Roms war. Sie schreibt: „Er ist nicht einfach nur ein untätiges Emblem der römischen Macht, sondern trägt aktiv zur Schaffung der römischen Stadt und der Romanitas bei.“[ii] In meiner Lesart: Tiberinus inspiriert nicht nur Äneas, sich mit dem Pelasger Evander zu verbünden und als trojanischer Flüchtling für seinen Platz auf der italischen Halbinsel zu kämpfen, sondern will damit auch seinen Nachkommen den Weg ebnen.
Später wird Tiberinus ebenfalls Romulus und Remus retten, die in einem Korb im Tiber ausgesetzt worden waren. Der Korb bleibt am Ufer hängen, weil der Tiber zeitgerecht nach einer Flut seine Wasser zurückzieht, damit die Wölfin die zwei Säuglinge finden kann. Alles Mythologie? Natürlich. Aber trotzdem stark genug, um den Grundstein für Roms Identität – heute würde man wohl von einem geschickten Branding sprechen – zu bilden. Nicht ganz unwichtig ist auch, wer die Eltern der Zwillinge Romulus und Remus sind: Rhea Silvia war die Tochter des älteren Sohnes von Äneas, Numitor. Ihr Onkel Amulius zwang sie dazu, Vestalin zu werden. Doch der Gott Mars verführte die junge Frau, und Rhea Silvia sah sich gezwungen, die Halbgötter und Zwillinge im Tiber auszusetzen.
Im Unterschied zu mir hat Meyers ihren Vergil gelesen und weist darauf hin, dass der Dichter in der Äneis drei leicht unterschiedliche Bilder des Flussgotts Tiberinus darstellt: Eine stammt von Vergil als Autor, eine ist die Selbstdarstellung von Tiberinus im Traum von Äneas und eine Dritte beschreibt den Flussgott aus der Sicht des eben erwachten Äneas. Meyers interpretiert, dass Vergil damit einen Bogen in die archaische Vorgeschichte aus dem Mittelmeerraum schlagen wollte, von der Zeit, als Flussgötter noch als Stiere mit menschlichen Köpfen dargestellt wurden, zu hellenistischen-etruskischen Bildern eines Gottes in Menschengestalt mit Hörnern und schliesslich zu einer römischen Darstellung einer menschenähnlichen Gestalt, bei der die Hörner vom Kopf gelöst und umgekehrt zu einem Füllhorn geworden waren.
Vergil hat ein feines Netz gesponnen aus der Vorgeschichte Roms und aus darauffolgenden Ambitionen eines erstarkenden Imperiums. Denn: „Das Auftauchen des Tiberinus auf der römischen Bühne fällt mit dem Auftauchen Roms auf der Weltbühne zusammen.“ Die Zeit des Endes der Römischen Republik und der ersten Kaiser repräsentiert wie keine andere Roms Anspruch, eine Weltstadt von Rang und Namen zu werden. „Wenn also visuelle Darstellungen des Tiberinus, wie die oben beschriebenen, die Gründungslegende Roms heraufbeschwören, verweisen sie gleichzeitig auf die sehr reale Lage des Flusses und seine Rolle dabei, sowohl die mythologischen Figuren der Vergangenheit als auch die internationalen Reisenden der Gegenwart in die Hauptstadt zu bringen.“ So ist das auch noch viele Jahrhunderte nach dem Untergang des Römischen Imperiums. Tiberinus hat sich als mein Reisebegleiter durch die Geschichte empfohlen und zum Fremdenführer durch die Stadt Rom, wie sie sich heute präsentiert, gemacht.
Der tropfende alte Mann wispert mir auf einem meiner Spaziergänge zu, ich solle auch mit der Nymphe Egeria sprechen. Wieder so eine einsilbige Anweisung. Den Rest muss ich mir selbst zusammenreimen. Als willige Schülerin setze ich mich jedoch gleich an den Computer und finde einen Hinweis zu Egeria im Eintrag zum Vesta Tempel auf dem Foro Romano. Ein Maus-Klick führt zum nächsten und ich erfahre, dass die Dienerinnen des Tempels der Vesta, die jungfräulichen Vestalinnen, jeweils rund eineinhalb Kilometer aus der Stadt hinaus in Richtung der Via Appia marschierten, um bei Egerias Quelle Wasser für die Reinigung ihres Tempels auf dem Foro Romano zu holen. Man kann sich leicht vorstellen, dass das ewige Feuer im Tempel und seine Asche reichlich Schmutz verursachen. Egeria,…?
[i] Schwab, G. (1958). Die schönsten Sagen des klassischen Altertums. Sonderausgabe des Buchclubs Ex Libris.
[ii] Meyers, G. (2009). The divine river: Ancient Roman identity and the image of Tiberinus. In: The nature and function of water, baths, bathing and hygiene from antiquity through the renaissance. Series technology and change in history, Vol. II (pp. 233–247). Kosso, C & Scott, A. (Eds.). Brill publisher
Andere Blog-Beiträge zu Flüssen: