Kürzlich erzählt mir ein Nachbar, dass er unter chronischen Schmerzen leidet. Eben sei er auf dem Heimweg von der Physio. Ich empfehle ihm, am Aare-Ufer spazieren zu gehen und er ruft gleich begeistert aus: „Ach, die Aare, mein alter Freund. Was würde ich ohne sie machen.“

Ich denke, es gibt viele Menschen wie ihn, die eine persönliche Beziehung zu den Flüssen, Bächen und Seen haben, in deren Nähe sie leben – sei dies die Aare, der Rhein, die Reuss, die Emme, der Genfersee und so weiter, und so fort. Es gibt viele Gewässer, die Schweiz ist das Wasserschloss Europas. Wenn ich in die Runde fragen würde, wären wir uns aber vermutlich nicht einig, ob „unser“ Fluss, „unser“ See männlich oder weiblich ist ;). Ich habe entschieden, dass die Aare für mich eine alte Freundin ist, zu der ich auf meinen Spaziergängen sowohl Sorgen wie Kopfschmerzen trage. Sie entzückt mich aber auch immer wieder von Neuem mit ihrer Schönheit und ihrem Ökosystem in und um sie herum aus Linden, Weiden, Raben und Saatkrähen, und natürlich auch aus Biberfamilien, die den Fluss auf ihre Weise bewirtschaften.

Ökophilosophie – einige Denkschulen und praktische Anwendbarkeit

Im Moment besuche ich einen Online-Kurs an einer englischen Universität mit dem Titel „Living Waters“. Daran nehmen TeilnehmerInnen aus aller Welt, aus Australien, Bali, Italien, Frankreich, Mexiko oder Schottland teil. Wir alle haben die Aufgabe, einmal in der Woche einen Fluss in unserer Nähe zu besuchen, den wir ausgewählt haben, versuchen mit ihm Kontakt aufzunehmen und uns über unsere Erlebnisse auszutauschen. Wohl verstanden, das ist keine Gruppe von Spinnern, sondern von gestandenen Forschern, KünstlerInnen, Biologen, UmweltaktivistInnen usw. Sie alle sind einfach der Überzeugung, dass Flüsse fühlende Wesen sind oder möchten diese Behauptung zumindest untersuchen. – Die gemeinsame theoretische Grundlage bilden aktuelle Denkschulen aus der Ökophilosophie wie Panpsychismus oder Tiefenökologie. Vereinfacht gesagt, gehen diese Strömungen davon aus, dass jegliche Form von Materie lebendig ist.

Ich weiss, dass sich viele Menschen nicht ohne weiteres auf ein derartiges Denken einlassen würden. Aber Hand aufs Herz, wer glaubt heute noch, dass Tiere oder Pflanzen nicht fühlen können, was um sie herum passiert. „Fühlen“ meine ich hier in einer breiten Definition. Weil beispielsweise Pflanzen verschiedene Radarsysteme haben, wie ich letzte Woche von einer Botanikerin gelernt habe, verstehen sie, wann sie ihre Blüten und Blätter wachsen lassen und ihre Köpfe aus der Erde strecken sollen…

Die Aare – eine Freundin?

Für einige mag dieses Beispiel gut nachvollziehbar sein. Aber ein Fluss wie die Aare soll „fühlen“, soll eine Freundin sein können? Das geht dann doch etwas zu weit. Und wie, bitte schön, soll die Aare mit einem kommunizieren können. Traditionelle Kulturen, vor allem solche mit schamanistischen Wurzeln, hatten kein Problem mit dieser Art des Denkens und Wahrnehmens. Sie sind wohl gar die Urahnen aktueller Strömungen wie der Tiefenökologie. Unsere westliche Philosophie hat dafür das Konzept der Ontopoesie entwickelt. Hier der Einfachheit halber ein Auszug aus Wikipedia dazu: „Ontopoetik ist ein philosophisches Konzept, das die kommunikative Auseinandersetzung des Selbst mit der Welt und der Welt mit dem Selbst beinhaltet. Sie wird auch als „poetische Ordnung“ beschrieben, die sich neben der „kausalen Ordnung“ im Prozess der kommunikativen Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit und der Teilnahme an ihr entfaltet.“ („Ontopoetics is a philosophical concept that involves the communicative engagement of self with the world and the world with the self. It is also described as a poetic order that unfolds alongside the „causal order“ in the process of the communicative engagement with reality and participating in it.“)

Mit andern Worten: Wer sich die Zeit dafür nimmt, die Natur um sich herum bewusst wahrzunehmen und in sie einzudringen, dem kann es passieren, dass ihm/ihr ein Vogel, ein Rauschen der Flusses oder eine Blume etwas erzählt, das bedeutungsvoll ist für diesen spezifischen Menschen und für das kommunizierende nicht-menschliche Wesen. Denn wir sind nie und niemals abgetrennt von der Natur, sondern zutiefst mit ihr verbunden. Wenn wir dies wollen. Es braucht etwas Übung und Vertrauen, dass man ontopoetische Erfahrungen zur Beziehung von Mensch mit (beispielsweise) einem Fluss zu machen beginnt. Man kann dafür mit einem leeren und vorurteilsfreien Geist den Fluss betrachten, beobachten, man kann ihn fotografieren, zeichnen, Gedichte über ihn schreiben, man kann meditieren usw. Irgendwann spricht der Fluss zurück.

In der Natur drinnen, anstatt aussen vor

Ich habe eine Lieblingsbank an der Aare, sie liegt nahe bei einer Saatkrähen-Kolonnie und anderen Rabenvögeln. Am Ufer sind einige Weidlinge (hölzerne Flachboote) vertaut. Im Ausschnitt, den ich sehe, spielen sich viele Dinge ab. Vögel kommen und gehen, landen auf den Bäumen, suchen nach Futter an der Uferböschung. Je nach Tag und Jahreszeit hat die Aare eine andere Farbe, einen unterschiedlichen Wasserstand und natürlich eine andere Temperatur. Sie klingt unterschiedlich. Es sind Jogger und Spaziergängerinnen unterwegs, der Wind rauscht… Wenn ich lange genug so sitze und schaue, dann bin ich nicht mehr nur eine Betrachterin, sondern werde Teil des Ökosystems dieses kleinen Ausschnitts der Aare. Ich werde von Aussenseiterin zu einer Insiderin. Das ist nicht nur poetisch, sondern magisch.

Vielleicht noch eine übergeordnete Überlegung: Weshalb ist es denn wichtig, dass wir uns als Teil der Natur verstehen und nicht als eine Spezies, die von ihr abgetrennt ist und – schlimmer noch -, sie zu kontrollieren versucht. Weil dieses alte Konzept von „Macht Euch die Erde untertan“ zutiefst die richtige Ordnung verkennt. Die Natur ist unsere Lebensgrundlage. Ohne sie kein Leben. Auch die Aare, meine alte Freundin, transportiert lebenswichtiges Wasser.

Hier ein weiterer Blog-Beitrag zum Thema Wasser.

About the Author
Seit Dezember 2020 veröffentlicht Claudia Acklin alle drei Wochen eine Episode ihres Podcasts. "Nature and the city - Die Natur und Stadt" beschäftigt sich mit Stadtökologie, Biodiversität und dem Klimawandel und dessen Auswirkungen auf die Stadtbewohner. - Claudia Acklin studierte Designmanagement, Sozialpädagogik und Journalismus und arbeitete mehr als 12 Jahre als Journalistin und Dokumentarfilmerin. Bis 2015 war sie hauptsächlich im Bildungs- und Forschungsbereich tätig und entwickelte neue Studiengänge wie den BA Design Management, International (DMI) oder eine Forschungsgruppe zu Design Management und Design Innovation an der Hochschule Luzern - Design & Kunst. Sie ist Gründungsmitglied des Vereins "Swiss Design Transfer", einem regionalen Zentrum für Designpromotion und -unterstützung für KMU. Und sie war die Gründerin und erste Geschäftsführerin des Creative Hub, einer Plattform zur Unterstützung von Start-ups im Schweizer Designsektor. Sie hat einen Doktortitel in Design von der Lancaster University/Imagination mit besonderem Schwerpunkt auf Innovation und Designmanagement. Von 2016 bis Mitte 2022 war sie die Leiterin der Geschäftsstelle der ausserparlamentarischen Kommission Schweizerischer Wissenschaftsrat SWR: **************** Since December 2020, Claudia Acklin publishes an episode of a podcast every three week. "Nature and the city" deals with urban ecology, biodiversity and climate change and the implications of the latter for citizens living in cities. - Claudia Acklin studied design management, social pedagogy and journalism; she worked for more than 12 years as a journalist and documentary filmmaker. Until 2015, she has mainly been working in the educational and research field and developed new study programmes such as the BA Design Management, International (DMI) at Lucerne School of Art and Design or a research group on design management and design innovation. She also is a founding member of the association “Swiss Design Transfer”, a regional centre for design promotion and support for SMEs. And she was the founder and first managing director of the Creative Hub, a platform to support start-ups of the Swiss design sector. She holds a PhD in design from Lancaster University/Imagination with a special focus on innovation and design management. From 2016 until mid 2022 she was the head of the secretariat of the extra-parliamentary commission Swiss Science Council SSC.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert