
Der Garten als ein Ort für Otium und Müssiggang
Die Zeit der harten Lockdowns ist vorbei und ich ertappe mich beim Gedanken, dass ich die Ruhe in unserem Garten – weil des fehlenden Verkehrs auf der Strasse – vermissen werde. Dieses Gefühl dem Alltag und dem Müssen enthoben zu sein, dafür mehr einfach nur da zu sein. So entdeckte ich etwa zwei neue Vogelarten in unserem Stadtgarten. Ich hatte angenommen, dass es in meiner Stadt nur Amseln, Tauben, Krähen und Spatzen gibt. Dem ist bei weitem nicht so. Ehrlich, ich hatte mich auch nicht wirklich für die Vögel in unserem Garten interessiert.
Mit etwas Musse entdecke ich aber plötzlich einen Hausrotschwanz, der etwas agitiert um mich herum zu fliegen scheint und einige Tage später einen Kleiber, der senkrecht und Kopf voran einen Eibenstamm nach unten klettert. Später entdecke ich, dass der Hausrotschwanz wohl auf Brautschau war, denn plötzlich taucht ein zweiter auf. Die beiden sitzen nebeneinander auf einem der Kännel und schauen auf einen Spatz herab, der sich bei ihnen anzubiedern versucht.
Hatte ich im Lockdown mehr Zeit? – Nicht wirklich. Ich hatte einfach, und begrüsste dies aus vollem Herzen, weniger Handlungsoptionen. Ich habe mir deshalb einfach mehr Zeit genommen, in meiner Umgebung anzukommen und nichts zu tun. Die Römer hatten dafür einen Begriff: Otium. Und ich erinnere mich wieder. In einem der letzten Jahre durchstreifte ich mit Hunderten anderer Touristen die Ruinen des alten Pompeji. Es war es brütend warm, ebenso heisse Winde wirbelten erbarmungslos Sand vom Boden auf und trieben ihn durch die Schluchten der Häuser, die bis vor rund 250 Jahren noch unter Schutt und Asche des Vesuvs gelegen hatten. Ich erinnere mich heute nicht nur wegen der Hitze daran, der ich seit meiner Kindheit mit wirkungsloser Verweigerung begegne – ich setze mich in den nächstbesten Schatten und warte bis mein Wut auf die Hitze verpufft ist –, sondern weil ich durch meine Besuche von Pompeji oder anderer römischer Siedlungen in der Nähe wie Stabiae auf das Konzept von Otium, von Musse im Gegensatz von beruflicher Zeit (negotium) gestossen bin.
Otium oder Zeit der Musse
In eine Villa Otium, in weitläufige Gebäudekomplexe aus einem peristilium (ein rechteckiger Hof umrahmt von Kolonnaden), einem atrium (Innenhof) oder einem triclinium (Esszimmer) mit Blick auf den Golf von Neapel, haben sich Patrizier aus Rom zurück gezogen, um Sport zu treiben, genüsslich hingebettet zu tafeln, sich bei Mondschein Gedichte oder Texte von Philosophen vorzulesen oder um nachzudenken. In den Villen der Musse gab es Schwimmbecken, an deren Ende ein nymphäum (ein Nymphenheiligtum) platziert war, durch welches die Menschen mit kühlem Wasser versorgt wurden. Eine Villa Otium könnte in die Gegenwart übertragen leicht als Wellness-Hotel durchgehen.
Doch das Konzept von Otium geht über unsere touristischen Badewelten hinaus. Die Nymphäen, jene Stätten der spätrepublikanischen römischen Zeit in Pompeij, waren von Nymphen oder anderen Wassergeistern belebt. Sie dienten nicht in erster Linie der Befriedigung körperlicher Bedürfnisse (dazu waren wohl eher die Triklinien da), sondern inspirierten jene Müssiggänger, die empfänglich waren für Inspiration, Poesie oder Musik.
Und mehr noch: Während heute Kinder im Pool mit farbigen Schwimmbrillen oder ebensolchen Flügeln herumplanschen (wie Putenengel mit Plastik an den Armen) oder Jünglinge mit skulpturierten „Abs“ und junge Frauen mit Mini-Bikini entlang der Piscina auf und ab paradieren, wurden die (Aussen-)Räume dieser Villen nicht nur für Festgelage (neu-deutsch: Partys) oder für Saunagänge (römisch: tepidarium, calidarium, laconicum, frigidarium) benutzt. Es wurde ebenso Raum gemacht für feinsinnige staatsmännische Tätigkeiten, für die Auseinandersetzung zeitgenössischer Literatur etwa, für das Gespräch über die politische, soziale und wirtschaftliche Gegenwart von Rom. So hat Seneca Otium unter anderem beschrieben als:
1 – otium (Freizeit) sein noch immer negotium (Geschäft), wenn auch fernab der Öffentlichkeit
2 – für eine tugendhafte Person und einen Weltbürger sei otium ein Feld der Pflichterfüllung (dieser Öffentlichkeit gegenüber, Anm. der Autorin).
Sommer, Zeit zum Nachdenken, auch über die Lage der Nation
Um Otium besser zu illustrieren, hier eine Grabinschrift Scipios mit dem Tagesablauf des ehemaligen Konsuls Vestricius Spurinna (Plin. epist. 3,1, Ende 1. Jh. n. Chr.) aus „Soziales Leben in Rom“: „Frühmorgens bleibt er noch im Bett, in der zweiten Stunde lässt er seine Sandalen bringen, geht drei Meilen spazieren und trainiert so Geist wie Körper. Wenn Freunde da sind, entfalten sich tiefgründige Gespräche; wenn nicht, wird ein Buch vorgelesen, manchmal auch in Anwesenheit seiner Freunde, wenn es diesen nichts ausmacht. Dann lässt er sich nieder, wieder wird aus einem Buch vorgelesen, oder (lieber) unterhält er sich. Dann steigt er in seinen Wagen und fährt ein Stück… Nach sieben Meilen Wagen legt er wieder eine Strecke zu Fuß zurück, setzt sich wieder hin oder geht ins Arbeitszimmer zu seinen Manuskripten. Denn er schreibt ganz vorzügliche Gedichte und zwar auf Latein wie auf Griechisch… (Der Tag endet mit einem Bad und einem Abendessen im Freundeskreis mit kulinarischen und literarischen Genüssen.)“
Meinen Wochen im Lockdown fehlt trotz vermeintlicher Ähnlichkeiten mit den Zeiten der Musse im alten Rom eine spezifische Ingredienz: Die Freizeit im Garten war gleichsam eine Gegenwelten zu Hektik und zum Stress digitaler Arbeitsformen im Homeoffice. Ich zog mich nicht in den Garten zurück, um als engagierte Weltbürgerin im Otium über Gott und die Welt oder um über Pest und Cholera nachzudenken. Ich hatte einfach genug von ZOOM und Co. und der Reduktion der sozialen Interaktion auf den Umgang mit Bildschirmen. In der Pandemie waren wir alle überflutet von Information in einer vernetzten globalisierten Welt. Vielleicht haben wir uns tatsächlich eher als Weltbürger*innen verstanden und haben umfassender als sonst über „die Lage der Nation“ nachgedacht? Doch werden wir auch in Zukunft wieder in Gärten und Parks sitzen, die Stadtnatur beobachten und weitere Vogelarten entdecken?