
Wer hat sie nicht schon geführt, die Gespräche darüber, wer an der Klimakrise und am Verlust der Artenvielfalt schuld ist. Sind die Unternehmen schuld, die zu viele Naturressourcen verbrauchen? Ist es eine ganze Generation von Konsument*innen, die blind kauft, was man ihr vorsetzt? Haftet jede/r Einzelne oder geht es hier um eine Systemkrise, die das Individuum nicht lösen kann? Und ist es nicht eh zu spät? – Ein moralisches Dilemma reiht sich an das nächste – was jetzt?
Es gibt Leute, deren Job es ist, die richtigen Fragen zu stellen und mit gut definierten Begriffen „echte“ Antworten zu geben: die Philosophen. Viele haben das Image, abgehoben zu sein und einsam unverständliche Diskurse in dicken Büchern zu führen…
Nicht aber dieser: Roger S. Gottlieb vom Worcester Polytechnic Institute in den USA. Auch er hat etliche Bände über Umweltphilosophie geschrieben. Aber er hat ausserdem auf zugängliche Weise eine vierteilige Vorlesung für seine Studierenden gehalten, die in eineinhalb Stunden viele grundlegenden Themen aufgreift. Sie ist im Internet zu finden.
Ein moralisches Dilemma – was jetzt?
„Morality and the Environmental Crisis“ oder „Moralität und die Umweltkrise“ geht ans Eingemachte: Unsere Wirtschaft und Gesellschaft sind auf Wachstum ausgerichtet; auch die Politik bezieht ihre Legitimation daraus, dass unser System kontinuierlich wächst. Zum Beispiel durch die Entwicklung neuer Technologien – und ich würde hier ergänzen, finanziert durch Unternehmen und durch staatliche Forschungs- und Innovationspolitiken.
Wenn wir uns etwa vor Augen führen, wie stark wir von Technologien wie dem Computer abhängen, dann sind wir alle permanent Komplizen dieser Wachstumslogik. Diese Komplizenschaft wird begleitet von einer schlechten bis in-existenten Beziehung zur Natur vieler Menschen. Wir stellen uns selten die Frage, welche Pflanzen in unserer Umgebung wachsen oder wo unser Wasser herkommt. Mit unserer Ignoranz verschärfen wir die Umweltkrise. Und das ist ein moralisches Problem.
Moral als Richtschnur
Welche Rolle spielt Moral in unserer Welt? Nach Gottlieb hat die Moral eine wichtige Funktion in der Gesellschaft. Sie ist ihre Richtschnur. Moral muss auch in unserer Beziehung zur Natur eine Rolle spielen. Ja, es gibt mittlerweile Naturschutzgesetze für Flora und Fauna; auch Forderungen danach, diese noch weiter zu fassen. Aber grundlegender wäre eine Moral, die die Natur als unsere Lebensgrundlage respektiert. Wir sind durch und durch abhängig von nicht-menschlichem Leben. Die Menschheit profitiert von einer Jahrtausende-dauernden Evolution der Natur.
Als moralische Wesen könnten wir folgende Haltungen einnehmen:
1 Dankbarkeit: und die Natur deshalb gut behandeln
2 Ehrfurcht: in Bezug auf die Komplexität der Natur
3 Tugendhaft leben: Achtsamkeit macht auch mehr Spass als ein trauriges auf Konsum-orientiertes Leben zu führen
4 Religion und Spiritualität: Jede Religion verfügt über Stränge, die den Respekt für die natürliche Umwelt einfordern.
Demokratie inklusive die natürlichen Umwelt
Wie sieht es auf der Ebene der Staaten aus? Nach Gottlieb basiert jede Demokratie auf dem Prinzip der Wahlfreiheit. Doch dieses funktioniert nur, wenn wir uns als Gemeinschaft unterhalten und verschiedene Gesichtspunkte austauschen, wenn wir partizipieren und uns auf die Demokratie einlassen. Unsere westlichen Staaten basieren letztlich auf Kommunikation. Doch wie ist es mit Wesen, die nicht sprechen können, wie z.B. unsere Haustiere oder der Baum im Garten? – Wir können auch ohne eine gemeinsame Sprache eine Beziehung mit diesen Wesen eingehen, aber dies braucht Zeit und Auseinandersetzung. Man könnte sich etwa zehn Minuten pro Tag unter den Baum im Garten setzen. Eine Demokratie, in der man die Natur nur schützt, ist noch nicht am Ziel. Wir haben eine moralische Verpflichtung, uns aus- und weiterzubilden und uns selbst und unsere natürliche Umwelt zu verstehen.
Und die Frage der Schuld
Natürlich haben einzelne Individuen mehr Verantwortung und, rückblickend betrachtet, auch mehr Schuld an der Klimakrise. Der CEO eines Unternehmens hat davon eindeutig mehr als seine Sekretärin. Er/sie und ebenso Politiker*innen oder andere einflussreiche Persönlichkeiten haben die Pflicht, auf die Klimakrise zu reagieren. Doch wer sich deshalb als Opferrolle betrachtet, der/die irrt sich. Jede/r hat die Möglichkeit, sich in der Umweltbewegung zu organisieren oder politisch aktiv zu werden.
Umweltbewegungen können die unterschiedlichsten Ziele haben: etwa den Kapitalismus abzuschaffen oder neue nachhaltige Lebensformen zu erfinden. Man kann diskutieren, Gesetzgebung ändern, demonstrieren, zivilen Ungehorsam ausüben. Als Einzelperson wird man zwar keinen grossen Unterschied machen, aber unzählige persönliche Entscheidungen treffen können wie: Kaufe ich jetzt Plastik- oder Papierbecher? Basierend auf persönlicher Betroffenheit, kann man sich für einen spezifischen Schwerpunkt engagieren.
Im Angesicht von Verzweiflung
Die Situation ist verzweifelt, aber wollen wir zulassen, dass wir davon ausser Gefecht gesetzt werden. Gottlieb meint dazu: „Let the future collapse into the present“. Dieser Satz ist nicht einfach auf Deutsch zu übersetzen. Sinngemäss heisst er, eine positive Zukunftsvision muss in der Gegenwart angepackt werden. Im Hier und Jetzt bin ich nicht ohnmächtig. Aktion ist möglich: für mein Haustier, für meinen Baum im Garten, für den Wald in der Nähe.