Die Wurzeln unserer ökologischen Krise

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Tradition trifft auf Industrialisierung (C. Acklin)

Ich bin vor kurzem über einen Text gestolpert, der 1967 die Gemüter in den USA und darüber hinaus bewegte. Der Artikel „The roots of our ecological crisis“, zu Deutsch „Die Wurzeln unserer ökologischen Krise“ erschien im renommierten Journal Science und gab wohl auch wegen der Schärfe seiner Analyse der Umweltphilosophie oder genauer der vergleichenden Umweltphilosophie starken Auftrieb.

Lynn White Jr. , der sich auf das Mittelalter und die Geschichte der Wissenschaft spezialisiert hatte, klagte damals in seinem Artikel die jüdisch-christliche Weltsicht an: „Besonders in seiner westlichen Form ist das Christentum die anthropozentrischste Religion, die die Welt je gesehen hat.“ Diese Religion habe unsere Beziehung zur Natur geprägt und moderne Technologien, wie sie vor allem seit der Entstehung moderner Demokratien aus der Wissenschaft hervorgegangen waren, lägen an den Wurzeln unserer ökologischen Krise.

Sie hätten dazu gedient, sich die Erde untertan zu machen und uns im Abbild Gottes zu erschaffen. (Der einzige Revolutionär des Christentums sei übrigens Franz von Assissi gewesen, dessen Überleben nach White Jr. an ein Wunder grenzt, denn er habe schon damals den Menschen nicht über die Natur gestellt. Und er müsste folglich zum Schutzheiligen der Ökologie ausgerufen werden.)

Umweltphilosophie der asiatischen Denktraditionen

Ich war auf Lynn White Jr. in der Einleitung eines Buches von 2014 von Baird Callicott und James McRae zur Umweltphilosophie der asiatischen Denktraditionen Hinduismus, Buddhismus, Taoismus und Konfuzianismus aufmerksam geworden. Die zwei Herausgeber dieser Samlung von Texten beschreiben, wie die Gedanken von White Jr. damals auf einen fruchtbaren Boden stiessen. In den USA – und später auch in Europa – war dies die Zeit der „Beatniks“ und „Hippies“, die mit dem Hinduismus oder Buddhismus liebäugelten oder die eine andere Form der Beziehung zur Natur suchten. Man erinnere sich an ihr Motto „zurück zur Natur“.

Whites Ansichten erschüttern heute jedoch niemanden mehr. Sie sind allgemein akzeptiert. Ähnliche Gedanken treiben auch diejenigen an, die zu „climate justice“ aufrufen, zur Gerechtigkeit für Klima, Mensch und Natur. Und doch erlaubte mir dieser Text einen Blick zurück auf ein Stückchen meiner Geschichte, das mich als junge Erwachsene stark geprägt hat. Es war in den frühen 80er-Jahren, als mein lesehungriger Geist sich abwechselnd auf feministische, anthropologisch-mythologische und psychologische Literatur stürzte.

Bezüge zu asiatischen oder indianischen Denktraditionen boten damals auch für mich eine Hilfestellung an, um meine westlichen Gedanken zu spiegeln und zu hinterfragen. Ich war eine Post-68erin, getrieben durch Umwelt- und Frauenfragen. Auch ein Teil des Feminismus kritisierte damals die patriarchale Ausrichtung des Christentums und brachte viele weibliche Gottheiten zurück ins Bewusstsein, die in Vergessenheit geraten waren.

Ökologisches Bewusstsein

Ich habe beispielsweise das Buch von Sukie Colegrave „Yin und Yang“ verschlungen, das eine Synthese zwischen westlicher Psychologie und östlichen Denktraditionen herstellte. So schrieb etwa Colegrave: „Wir scheinen zwischen zwei Impulsen gefangen zu sein, der eine führt zu grösserer Erfahrung des Selbst, unserer Befreiung von jeglicher Art von Gruppenidentität, sei es Familie, Rasse, Kultur oder Nation, der andere Impuls weckt in uns den Sinn für eine neue und umfassende Identität mit dem Universum.“ Heute würde man vielleicht sagen, dass die asiatischen Traditionen es einfacher damit haben, sich in ein „intelligentes“ Ökosystem einzudenken.

White’s Schlussfolgerungen von 1967 klingen für mich heute nach wie vor aktuell: „Ich persönlich bezweifle, dass katastrophale ökologische Auswirkungen vermieden werden können, indem wir einfach mehr Wissenschaft und mehr Technologie auf unsere Probleme anwenden.“ Oder: „Was wir in Bezug auf die Ökologie tun, hängt von unseren Vorstellungen über die Beziehung zwischen Mensch und Natur ab. Mehr Wissenschaft und mehr Technologie werden uns solange nicht aus der gegenwärtigen ökologischen Krise herausbringen, bis wir eine neue Religion finden oder unsere alte überdenken.“ – Ich würde das heute genauso sehen, dass wir neben politischen Aktivitäten vor allem auch ein neues ökologisches Bewusstsein benötigen. Ein ökologisches Mindset, wie man heute Neudeutsch sagen würde.

Ein anderer meiner Blog Posts zu diesem Thema ist hier zu finden.

Literatur

White Jr., L. (1967). The historical roots of our ecological crisis. Science,155 (3767), 1203–1207. https://doi.org/10.1126/science.155.3767.1203

Callicott, B. J., & McRae, J. (Eds.). (2014). Environmental philosophy in Asian traditions of thought (SUNY Press). Albany: State University of New York.

 

 

About the Author
Seit Dezember 2020 veröffentlicht Claudia Acklin alle drei Wochen eine Episode ihres Podcasts. "Nature and the city - Die Natur und Stadt" beschäftigt sich mit Stadtökologie, Biodiversität und dem Klimawandel und dessen Auswirkungen auf die Stadtbewohner. - Claudia Acklin studierte Designmanagement, Sozialpädagogik und Journalismus und arbeitete mehr als 12 Jahre als Journalistin und Dokumentarfilmerin. Bis 2015 war sie hauptsächlich im Bildungs- und Forschungsbereich tätig und entwickelte neue Studiengänge wie den BA Design Management, International (DMI) oder eine Forschungsgruppe zu Design Management und Design Innovation an der Hochschule Luzern - Design & Kunst. Sie ist Gründungsmitglied des Vereins "Swiss Design Transfer", einem regionalen Zentrum für Designpromotion und -unterstützung für KMU. Und sie war die Gründerin und erste Geschäftsführerin des Creative Hub, einer Plattform zur Unterstützung von Start-ups im Schweizer Designsektor. Sie hat einen Doktortitel in Design von der Lancaster University/Imagination mit besonderem Schwerpunkt auf Innovation und Designmanagement. Von 2016 bis Mitte 2022 war sie die Leiterin der Geschäftsstelle der ausserparlamentarischen Kommission Schweizerischer Wissenschaftsrat SWR: **************** Since December 2020, Claudia Acklin publishes an episode of a podcast every three week. "Nature and the city" deals with urban ecology, biodiversity and climate change and the implications of the latter for citizens living in cities. - Claudia Acklin studied design management, social pedagogy and journalism; she worked for more than 12 years as a journalist and documentary filmmaker. Until 2015, she has mainly been working in the educational and research field and developed new study programmes such as the BA Design Management, International (DMI) at Lucerne School of Art and Design or a research group on design management and design innovation. She also is a founding member of the association “Swiss Design Transfer”, a regional centre for design promotion and support for SMEs. And she was the founder and first managing director of the Creative Hub, a platform to support start-ups of the Swiss design sector. She holds a PhD in design from Lancaster University/Imagination with a special focus on innovation and design management. From 2016 until mid 2022 she was the head of the secretariat of the extra-parliamentary commission Swiss Science Council SSC.