
Es ist nun ziemlich genau ein Jahr her, dass ich die erste Episode meines Podcast „Die Natur und die Stadt“ veröffentlicht habe. Die Interviews für „Überraschendes zu den Völkern der Honigbienen“ hielten für mich einige Neuigkeiten bereit: nicht nur, dass es im Moment in der Schweiz eher eine Überpopulation von Bienen gibt, sondern auch, dass die intensiv bewirtschafteten Landwirtschaftszonen den Völkern der Honigbienen nur wenig zu bieten haben.
Ich hörte den Begriff der „grünen Wüste“ zum ersten Mal, Felder, die nur einmal im Jahr blühen wie beispielsweise der Raps. Mit Erstaunen hörte ich auch, dass Honigbienen und Wildbienen mit den Städten futtertechnisch gut bedient sind: unterschiedlicher Pollen, vielfältige Pflanzenarten, nicht nur einmal pro Jahr, sondern kaskadierend immer mal wieder eine andere Blume, ein anderer Strauch oder ein Baum. Ausserdem werden in Städten nicht immer, aber immer öfter, keine künstlichen Pestizide verwendet. Die Stadt als Wildreservat wurde für eine grössere Anzahl von Imkern interessant, die hier auf ihre Rechnung kommen.
Die grüne Wüste und die Betonwüste
Den Begriff der Wüste hier in der Schweiz hatte ich eher mit den Betonwüsten unserer Städte in Zusammenhang gebracht. Und wenn das über weite Strecken gilt, dann natürlich weil diese dichtbesiedelten Zonen eine ganze Menge von Beton und Asphalt nach sich ziehen. Doch mit meinem Podcast hat sich mein Bild etwas verschoben. Ich habe von meiner Mutter, die gerne auf dem Friedhof Hörnli in Basel spazieren geht, von den Rehen gehört, die dort die Blütenblätter von Rosen mampfen. Meine Podcast-Kollegin Madlen Ziege in Deutschland hat in unserer gemeinsamen Episode vom Einfall der Wildkaninchen in Hamburg erzählt, etwas das sie in ihrer Dissertation verarbeitet hat.
Ausserdem gibt es über die Schweiz und Deutschland hinaus viele Geschichten aus den Corona Lockdowns: Im Central Park von New York ist offenbar nach 130 Jahren wieder eine Weisse Eule gelandet; sie hat sich dort einige Monate über die Mäuse hergemacht. In Argentinien kamen die Seelöwen in einer Stadt an der Küste bis auf die Gehsteige hinauf und Bergziegen aus den Hügeln waren in die Niederungen von Wales herunter gekommen, um die Blumenkästen unsicher zu machen.
Städte sind keine biologischen Wüsten
Einem Artikel von Janet Marinelli entnehme ich, dass sich die BiologInnen erst seit jüngerer Zeit mit Wildtieren und wilden Pflanzen in der Stadt beschäftigen und damit begonnen haben, zu quantifizieren und zu kartografieren, welche Entwicklungen beobachtet werden können. Zunächst räumten sie aber mit der „biological deserts fallacy“ auf, dem Irrtum, dass Städte biologische Wüsten sind.
Für die Schweiz wissen wir bereits relativ genau, von welchen Zahlen wir hier sprechen – meine Podcast-Hörer*innen haben sie bereits gehört : 67 Prozent aller Tierarten, die in der Schweiz leben, und 45 Prozent aller einheimischen Pflanzen, existieren auch in der Stadt. Die Dichte an Wildtieren und -pflanzen in der Stadt ist sogar höher als in Landstrichen mit intensiver Landwirtschaft.
Und hier noch einige Zahlen aus internationalen wissenschaftlichen Studien , ebenfalls in besagten Artikel von Janet Marinelli zu finden:
- 2017 untersuchte eine Studie 529 Vogelarten und fand, dass 66 davon nur in städtischen Umgebungen leben.
- In Australien fand man 39 gefährdete Arten (Bäume, Büsche, Schnecken oder Orchideen), die nur überleben, weil sie in Städten Lebensräume gefunden haben.
- In 2014 untersuchte eine Studie 110 Städte mit unterschiedlichen biogeographischen Voraussetzungen und inventarisierte die dortige Pflanzenwelt und in 54 Fällen entstanden vollständige Listen von Vögeln. Diese Studie fand, dass die Biodiversität über die Jahre hinweg in den Städten konstant geblieben war, aber dass es dort weniger Exemplare einer Art als früher gab.
Die Stadt als Wildreservat
Für die Schweiz, Deutschland und für die erforschten Länder in den USA, Australien und Europa kann man also sagen, dass die Städte eigentliche Wildreservate für die Biodiversität sind und es noch stärker als zuvor geworden sind. Dies durch so unterschiedliche Lebensräume wie Feuchtgebiete, stadtnahe Wälder, Parkanlagen, Privatgärten, Industriebrachen, Friedhöfe, Golfplätze usw. Wenn man sich nun vorstellt, was passieren würde, wenn wir noch mehr Flächen in der Stadt entsiegeln würden, dann geht einem das Herz vor Vorfreude über!
Einen letzten wichtigen Gedanken verschiedener Wissenschaftler*innen aus dem bereits besagten Artikel möchte ich hier noch wiedergeben: Die Städte werden in den kommenden Jahren noch weiter wachsen. Doch die Effekte davon sind nicht nur negativ, denn damit sinkt die Armut, die Geburtenrate und – offenbar! – auch der Grad des Konsums pro Kopf. Sie schreiben: „Das Paradoxon der NaturschützerInnen besteht darin, dass die gleichen Kräfte, die die Natur jetzt zerstören, auch die Voraussetzungen für einen langfristigen Erfolg schaffen.“
Die Biodiversität durch den Flaschenhals retten
Die Forschenden sagen einen schwerwiegenden Flaschenhals für die Biodiversität in den kommenden 30-50 Jahren voraus. „ ‚Wenn wir jedoch genügend Natur durch den Flaschenhals hindurch erhalten können‘, wird der Druck nachlassen, und in hundert Jahren, wenn die überwiegende Mehrheit der Menschen in Städten lebt und nur sehr wenige von ihnen in extremer Armut, könnte sich die menschliche Bevölkerung stabilisieren und sogar abnehmen. Der einzig sinnvolle Weg, um eine Welt mit 6 Milliarden Menschen und riesige Naturflächen zu erreichen, so folgern sie, besteht darin, dass NaturschützerInnen ihre Bemühungen zum Schutz der biologischen Vielfalt fortsetzen, auch in Städten, ‚um die Grundlagen für eine dauerhafte Erholung der Natur zu schaffen‘.“
Janet Marinelli (2021). Urban Refuge: How Cities Can Help Solve the Biodiversity Crisis
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