Der Chefkoch und die Wildpflanzen

Ich bin in der Nähe von Basel in einem Dreifamilienhaus aufgewachsen. Auch der Eigentümer der Liegenschaft wohnte mit Frau und drei Kindern dort. Meine Mutter lebt heute noch in diesem Haus und hat seit über 50 Jahren einen Garten im Hinterhof (siehe diese Episode von „Die Natur und die Stadt“). Er war ein gelernter Koch, der später in seinem Leben in einen Management-Job gewechselt hatte. Für unsere Familie war das von Vorteil, denn wir erhielten zu Weihnachten immer etwas Selbstgekochtes von ihm, das einfach wunderbar schmeckte. Er tauchte jeweils mit einem grossen Lächeln und einem Teller in der Hand vor unserer Haustüre auf.

Einer seiner Söhne wurde ebenfalls Koch und blieb es ein Leben lang. Er wurde gar ein Chefkoch und gründete gleich mehrere Restaurants zusammen mit einem Compagnon. Nun bin ich nicht unbedingt ein Mensch, der nur für gutes Essen lebt. Aber wenn ich etwas Schmackhaftes („öbbis feyns“, auf Baseldeutsch) auf den Teller bekomme, dann merke ich es und erinnere mich oft noch später daran. Durch die Eigentümerfamilie lernte ich in meiner Jugendzeit die Waldmeister-Bowle (was man kaum mehr trinkt) kennen und das Bärlauch-Pesto (das alle sicher kennen).

Der Chefkoch und die Wildpflanzen

Einige Jahre später war ich einmal bei diesem Chefkoch zu Gast. Er hatte viel von seinem Vater mitgenommen und wohl auch weiterentwickelt, denn die Zeit war reif, dass auch edle Restaurants Ungewöhnliches versuchten, und dass ein Chefkoch Wildpflanzen in seinen Kreationen servieren konnte. Ebenfalls mit einem grossen Lächeln im Gesicht brachte er mir damals einen Teller mit assortierten Eis- und Sorbet-Spezialitäten – zum Beispiel mit Veilchen-Glacé oder Löwenzahn-Sorbet. Die Kräuter und Pflanzen dafür hatte er im nahen Wald gesammelt. Er war ein Vorreiter. Heute sind Superfood und Wildpflanzen in der Küche fast schon eine Selbstverständlichkeit. Doch von Moden hält er nicht viel (siehe den letzten Absatz dieses Beitrags).

Wildkräuter sammeln als wäre man ein Indianer

Ich hätte den Chefkoch gerne für meinen Podcast interviewt. Doch er war leider nicht dafür zu haben. Dafür hat er mir einige Rezepte in einem Brief geschickt, die ich hier gerne vorstellen möchte. Aber zuvor noch dies: Er meinte letzten Herbst zu mir, dass er immer nur soviel einer Pflanze oder eines Pilzes sammelt, wie er braucht. Das helfe, um nicht gierig zu werden. Und wie ein alter Indianer bedanke er sich auch recht herzlich bei der Pflanze dafür. Ich zitiere ihn hier direkt (aber ihm ist wohl lieber, wenn ich ihn nicht namentlich nenne).

Einige Rezepte

1. Rone-Chrut – Aronstab
„Es ist das erste Grün im Wald, noch vor den Hemmliglunggi, Bärlauch, Lungenkraut und Schlüsselblumen und gilt als ungeniessbar. Mein Papi war ganz scharf drauf, es soll sehr gesund sein, vor allem blutreinigend. Also war jeden Frühling, Rone-Chrust-Sammeln angesagt. (…) Jedenfalls haben wir alle überlebt und Blutprobleme hat keiner von uns. Später habe ich in einem Buch gelesen, dass der Aronstab ein Gift enthält namens Aroin, das sich aber beim Kochen weitgehend verflüchtigt.
Rone-Chrut in Butter dünsten, leicht mit Mehl bestäuben, damit der austretende Saft gebunden wird, Salz, Pfeffer und ein Schuss Essig – fertig. Beim Essen nicht kauen, nur hinunterschlürfen.“
(Ich habe den Aronstab auch gegoogelt, um zu wissen, wie er aussieht. Und teile hier diesen Link, damit klar ist, dass diese Heilpflanze auch seine gefährlichen Seiten hat: [Aronstab](https://heilkraeuter.de/lexikon/aronstab.htm). Also Vorsicht damit.)

2. Wilder Rucola
„… habe ich in Italien kennengelernt, ca. anfangs der 80er-Jahre. Den gab es in Basel noch nicht, nicht einmal in italienischen Restaurants. Noch im gleichen Jahr habe ich am Kleinbasler-Ufer des Rheins, zwischen St. Albanfähre und Wettsteinbrücke (es war mein Arbeitsweg) Rucola entdeckt. Wie der dorthin kam, weiss ich nicht. Anfangs Sommer bis anfangs Winter konnte ich täglich eine Handvoll ernten – zum Kochen nicht geeignet, er verliert den Geschmack.
Mit Geissenfrischkäse gefüllte Feigen (vielleicht noch mit einer Speckscheibe umwickelt) im Ofen überbacken, auf Rucola, etwas Olivenöl und Zitronensaft, dazu ein Risotto – ein Gedicht.“

3. Am Tramgleis
„Auf meinem täglichen Spaziergang dem Tramgleis nach Flüh entlang, wachsen doch tatsächlich ca. 16 verschiedene essbare Wildpflanzen. Da ja die Winter in unserer Gegend nicht mehr so kalt sind und auch der Schnee immer seltener, kann ich mir schon im Januar einen Wildsalat zusammenstellen. Mein Favorit ist die Wegwarte, eigentlich der wilde Chichorée oder Treviso. Die Rosette hat rot-grün gesprenkelte Blätter – sie schmecken sagenhaft gut. Löwenzahn, Pimpernelle, Rosetten von Gänseblümchen, Huflattich und der wilde Schnittlauch – ist alles schon da. Ein Wildsalat mit Apfelessig und Kürbiskernen-Öl (ist etwas teuer), geröstete Kürbiskerne und Granatapfel (wächst zwar nicht bei uns, aber ich liebe Granatapfel), dazu Geissenkäse-Croûtons mit Honig – ein Traum.“

4. Der Waldmeister
„Ein unscheinbares Frühlingsblümchen mit viel Geschmack, aber auch nicht ganz ungiftig. Es enthält Cumarin, ein Nervengift, habe ich gelesen. Ich habe immer Waldmeister-Sirup gemacht, den man vielfältig verwenden konnte, für Desserts oder Getränke. Eine Spargelcrème mit ganz wenig Curry und einem Schuss Waldmeister-Sirup – die Gäste waren begeistert.“

5. Pilze
„Ich kenne etwa 10 Sorten, wo ich ganz sicher bin. Alle anderen lasse ich lieber stehen. Ein Freund von mir hat mich einmal mitgenommen zum Pilzeln… ‚Wow, da ist ja alles voll Morcheln.‘ – ‚Ich sehe keine Morcheln.‘ – ‚Doch schau‘ richtig hin.’ Und auf einmal habe ich sie gesehen, es braucht eben ein Auge dafür.“

6. Die Brennessel
„… findet man überall und jeder kennt sie. Als Suppe, Gemüse, Knödel oder Brennessel-Spätzli. Was ich ganz toll finde, sind gedämpfte, grob gehackte Brennesseln, angemacht mit Salz, Pfeffer, wenig Knoblauch, Olivenöl und Zitronensaft – karamellisierte Birnenschnitze obendrauf – noch lauwarm serviert.“

7. Bärlauch
„Was soll ich dazu noch sagen, ich warte nur noch bis die erste Bärlauchschoggi auf den Markt kommt. Ich habe Bärlauch gerne, aber nicht gekocht, da hat er für mich einen Nebengeschmack wie Katzenpisse.“

Katzenpisse zu schmecken ist sicher grässlich, aber mir stellt es bereits beim Geruch ab – obwohl ich Katzen über alles liebe. Merci, lieber Chefkoch, für die Warnung, ich werde es also nicht versuchen.

About the Author
Seit Dezember 2020 veröffentlicht Claudia Acklin alle drei Wochen eine Episode ihres Podcasts. "Nature and the city - Die Natur und Stadt" beschäftigt sich mit Stadtökologie, Biodiversität und dem Klimawandel und dessen Auswirkungen auf die Stadtbewohner. - Claudia Acklin studierte Designmanagement, Sozialpädagogik und Journalismus und arbeitete mehr als 12 Jahre als Journalistin und Dokumentarfilmerin. Bis 2015 war sie hauptsächlich im Bildungs- und Forschungsbereich tätig und entwickelte neue Studiengänge wie den BA Design Management, International (DMI) oder eine Forschungsgruppe zu Design Management und Design Innovation an der Hochschule Luzern - Design & Kunst. Sie ist Gründungsmitglied des Vereins "Swiss Design Transfer", einem regionalen Zentrum für Designpromotion und -unterstützung für KMU. Und sie war die Gründerin und erste Geschäftsführerin des Creative Hub, einer Plattform zur Unterstützung von Start-ups im Schweizer Designsektor. Sie hat einen Doktortitel in Design von der Lancaster University/Imagination mit besonderem Schwerpunkt auf Innovation und Designmanagement. Von 2016 bis Mitte 2022 war sie die Leiterin der Geschäftsstelle der ausserparlamentarischen Kommission Schweizerischer Wissenschaftsrat SWR: **************** Since December 2020, Claudia Acklin publishes an episode of a podcast every three week. "Nature and the city" deals with urban ecology, biodiversity and climate change and the implications of the latter for citizens living in cities. - Claudia Acklin studied design management, social pedagogy and journalism; she worked for more than 12 years as a journalist and documentary filmmaker. Until 2015, she has mainly been working in the educational and research field and developed new study programmes such as the BA Design Management, International (DMI) at Lucerne School of Art and Design or a research group on design management and design innovation. She also is a founding member of the association “Swiss Design Transfer”, a regional centre for design promotion and support for SMEs. And she was the founder and first managing director of the Creative Hub, a platform to support start-ups of the Swiss design sector. She holds a PhD in design from Lancaster University/Imagination with a special focus on innovation and design management. From 2016 until mid 2022 she was the head of the secretariat of the extra-parliamentary commission Swiss Science Council SSC.

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