
Bäume und Bücher: Totholz im Wald für Insekten ideal (Copyright C. Acklin)
Während des Corona-Lockdowns entdeckten viele Menschen die Wälder wieder. Die, etwas technisch ausgedrückt, Naherholungsgebiete wurden zu Orten, in denen Social Distancing und Hygieneregeln mit Naturgenuss elegant kombiniert werden konnten. Man schlug sich in die Büsche anstatt entlang der Trampelpfade zu gehen und fand dort jene kleine Freiheit wieder, nach der man sich trotz Homeoffice oder gerade deswegen sehnte. Man hörte Gezwitscher und fragte sich, welcher Art dieser Vogel wohl angehörte. Oder man zählte sich gegenseitig die Namen der Bäume auf, in deren Kronen man blinzelte, beglückt darüber, dass man vor lauter Wald mal wieder die Bäume sah. Einige hatten die Entschleunigung durch die Gratis-Ressource Wald wiederentdeckt. Und einige schworen sich, die Waldspaziergänge nach dem Lockdown weiterzuführen und mehr über Bäume zu lernen… hier einige Bücher über sie.
Bäume und einige Bücher
Über die Jahre hinweg habe ich mich immer wieder mit Bäumen beschäftigt. Davon zeugen einige Bücher in meiner Bibliothek. Über fünf von ihnen würde ich gerne in diesem Beitrag erzählen. Den Bogen, den sie spannen, spiegelt die Vielfalt der Perspektiven wieder, mit denen sich die Autor*innen dem Wald oder einzelnen Bäume genähert haben: aus einer mythisch-kulturhistorischen, einer sozialgeschichtlichen, einer literarischen und schliesslich einer medizinischen, wobei sind in dieser letzten Perspektive Erfahrungswissen und Wissenschaft miteinander verbinden. Anders als mit dieser Vielfalt von Zugängen, lassen sich Wald und Bäume auch nicht beschreiben.
Baumzeit. Magier, Mythen und Mirakel
von Verena Eggmann und Bern Steiner…
ist in seiner 4. Auflage 1996 im Werd-Verlag erschienen. Die Fotografin und der Autor-Journalist-Lyriker nennen ihr 33 mal 28 cm grosses Werk in einem weiteren Untertitel „Neue Einsichten in Europas Baum- und Waldgeschichte“, was eine Untertreibung ist. Illustriert durch die Fotografien riesenhafter Bäume denken sie sich in die Zeiten von Merlin und weiter zurück, beschreiben Religionsgeschichte der dunkleren Art wie die bewusste Abholzung heiliger Bäume der Kelten oder Germanen oder zumindest die Vereinnahmung der Symbole der „alten Religionen“, wenn es nicht anders möglich war. Vieles ist zuvor rund um und unter diesen Eiben, Eichen, Buchen oder Linden geschehen: Es wurde gerichtet, verurteilt, geheiratet, geopfert, getanzt… Die Bäume selbst waren die Heiligtümer, die nicht Kirchen, die später daneben und unter Umständen sogar darum herum entstanden. Das Titelbild von Eggmann und Steiners Buch, das über den Zeitraum von rund 20 Jahren entstand, gehört wohl auch deshalb einer 3000-jährigen (!) Eibe in der Normandie, neben der heute eine nun ebenfalls historische Kirche steht. Am Beispiel einer alten Stieleiche in Frankreich wird der religionsgeschichtliche und gesellschaftliche Wandel sichtbar: „Der Baum war Zinsplatz der Bauern, danach eine Schumacherwerkstatt, danach Barbierstube, danach Hornissenbehausung, jetzt der Sitz der Göttin Maria.“ Mitten im Buch finden die Leser*innen eine Fotografie von Merlins Grab, ebenfalls in Frankreich (und ich hatte immer gedacht, er habe die britannische Insel etwas weiter oben bewohnt) und einen äusserst witzigen fiktiven Dialog mit ihm und einem Kauz, der nicht immer mit dem Zauberer einig ist. Anders als mit Poesie oder einer Glosse ist der Baumgeschichte nicht beizukommen.
Der Keltische Baumkalender. Über den Menschen, die Zeit und die Bäume
von Michael Vescoli
ist 1995 im Kailash-Verlag erschienen. Wer einen Einblick in das druidische Wissen aus der Zeit bevor und gerade noch während Merlin erhalten möchte, schaue sich den Keltischen Baumkalender an. Mehrere, bis zu 14 aufeinander folgende Tage und den im Sonnenkalender gegenüberliegenden Tagen ist je ein Baum zugeordnet – sozusagen ein Geburtstagsbaum. Vescolis Buch ist für Menschen, die eine Abwechslung zur Astrologie suchen. Oder: Wer diesen Zuschreibungen nichts abgewinnen kann, lernt wenigstens etwas über die wichtigsten Bäume Europas. Mir, einer Zypresse, wurde das Buch von einem Weidenbaum geschenkt. Charmant, weil ich mich leider nicht mehr daran erinnern kann, wie die Weide mit Menschennamen hiess.
The botany of desire: A plant’s-eye view of the world
von Michael Pollan
ist 2001 im Verlag Random House erschienen. Bedeutend weniger magisch nähert sich der amerikanische Autor berauschenden Pflanzen, deren Sozialgeschichte er sich anschickt zu erzählen. Es geht um Tulpenzwiebeln, die im 17. Jahrhundert in Holland mehr Wert waren als Gold. Es geht um Marihuana, Tomaten und Apfelbäume in Nordamerika. Alle diese Pflanzen haben bei Menschen besondere Begehrlichkeiten geweckt, welche im Fall des Apfelbaumes dazu beitrugen, dass diese Pflanze, die ihr Schicksal an einen Ort gebunden durchleben, die Reisebegleiterin der amerikanischen Siedler Richtung Westen wurde. Pollan erzählt die Geschichte einer Co-Evolution von Baum und Menschen, von der beide profitierten. Ein John Chapman, der später Johnny Appleseed genannt werden sollte, fuhr den Siedlern mit einem Kanu voller Apfelsamen jeweils um einige Jahre voraus, hat Baumschulen gegründet und den Ankömmlingen später seine Jungbäume zu einem anständigen Preis verkauft. Doch weshalb war gerade dieser Fruchtbaum so beliebt, der es übrigens Menschen nicht unbedingt einfach macht, ihn zu vermehren? (Aus einem Apfelsamen wächst zwar ein Apfelbaum, aber nicht unbedingt derjenige, von dem er abstammt. Der Apfel fällt zwar nicht weit vom Stamm, der Apfelsetzling aber leider schon. ) Die Unique Selling Propositions des Apfelbaums waren vielfältig: Zucker war an der „new frontier“ so gut wie nicht erhältlich. Ausserdem schenkte der Apfel den Siedler*innen ein alkoholisches Getränk, auf das sie nicht verzichten wollten. Und es gab einen rechtlichen Grund, Apfelbaumsetzlinge zu kaufen. Für eine Landzuweisung im Nordwest-Territorium war es für den Erhalt einer Urkunde eine Bedingung, mindestens fünfzig Apfel- oder Birnbäume zu pflanzen. Damit sollte die Immobilienspekulation gedämpft und die Siedler ermutigt werden, Wurzeln zu schlagen. Da ein Apfelbaum normalerweise zehn Jahre braucht, um Früchte zu tragen, war ein Obstgarten ein Zeichen für den Wunsch nach einer dauerhafte Ansiedlung. – Die enorme Ausbreitung des Apfelbaumes über den nordamerikanischen Kontinent war die Geschichte der Domestizierung dieser Landschaft. Wer dies beklagen möchte, entgegnet Pollan: „Teilweise standardmäßig, teilweise absichtlich, ist die gesamte Natur jetzt dabei, domestiziert zu werden; sie kommt oder findet sich unter dem (etwas undichten) Dach der Zivilisation wieder. Sogar die Wildnis ist jetzt für ihr Überleben von der Zivilisation abhängig. “
The overstory. A novel
von Richard Powers
hat 2019 den Pulitzer Preis gewonnen. Sein Roman ist im Verlag W.W.Norton & Company erschienen. Im ersten Teil seines Buches verknüpft der Autor die Lebensgeschichten von sehr unterschiedlichen Personen mit einer spezifischen Baumsorte. Da gibt es beispielsweise die Geschichte von Einwanderern aus Europa und über Tausend Fotografien einer einsamen Edelkastanie in Iowa. Die erste Generation, ein Mann aus Norwegen und eine Frau aus Irland, hatte sich in New York beim Sammeln von Kastanien kennen gelernt. Der Baum hatte ihnen eine Gratismahlzeit und einen Ehepartner geschenkt: Sechs dieser Kastanien fanden mit ihnen den Weg in den Westen von Iowa, wo sie sich nieder liessen und vier Kinder miteinander hatten. Das erste Kind starb, eine der Kastanien spross nicht, ein weiterer Sprössling überstand einen kalten Winter, ein anderer eine Dürre, ein dritter einen Blitz und ein vierter den Mutwillen eines der Söhne nicht. Übrig blieb schliesslich nur ein Baum. Dennoch wuchs dieser über die Jahrzehnte zu einer stolzen Edelkastanie neben dem Bauernhof heran. Für die erste Generation war er das Symbol das Versprechen des Landes unbegrenzter Möglichkeiten. Die zweite Generation begann den Baum einmal im Monat vom immer gleichen Standort aus zu fotografieren. Die dritte und vierte wurden ebenfalls zu dieser Tradition verpflichtet, wenn sie auch zunehmend als Last empfunden wurde. Einer der Enkel im vierten Glied inspirierte der Baum dazu, Künstler zu werden. Er kehrt viele Jahre später zu einem Besuch des grosselterlichen Bauernhof just zu einem Zeitpunkt zurück, als sein Vater und seine Tanten im neu isolierten Bauernhaus an einer Gasvergiftung sterben. Der junge Mann bleibt auf dem Bauernhof, gleichsam gefangen in der Geschichte seiner Familie im Schatten des Kastanienbaums, der zwar eine Pilzepidemie überlebt, der vier Milliarden Edelkastanien in den USA zum Opfer fallen. Dennoch trägt er nie Früchte, weil ihm dafür ein Artgenosse in der Nähe fehlt… Powers beschreibt auch das Leben einer Wissenschaftlerin; ihrer Geschichte unterlegt er die Entdeckungen der letzten Jahre zur Kommunikationsfähigkeit von Bäumen. Bäume kommunizieren unter anderem durch die weit vernetzten unterirdischen Pilzgeflechte, die Bäumen (den Ortsgebundenen) Informationen aus dem umliegenden Ökosystem übermitteln können. Oder durch Moleküle, die sie aussenden, um Nachbarbäume über die Gefahren von Schädlingen zu informieren.
Die sanfte Medizin der Bäume. Gesund leben mit altem und neuem Wissen
von Maxiliam Moser und Erwin Thoma
ist in der 2. Auflage 2018 im Goldmann-Verlag erschienen. Diese beiden Autoren zoomen die Bäume im Hier und Jetzt, ganz nahe an uns heran. In einem der Kapitel gehen wir gar auf eine Reise in das Kapillarsystem eines Baumes und erleben eine Buche als grosses „Pumpwerk“, das CO2 aus der Luft und Wasser aus dem Boden ansaugt und damit einerseits Sauerstoff produziert und andererseits literweise Wasser hochzieht und verdampft. Mit dieser Evaporation werden beispielsweise Städte gekühlt, wie ich es hier beschrieben habe. Sterben Bäume bzw. liegt ihr Totholz am Boden, wird das CO2, das die Bäume einst eingelagert haben, wieder in die Atmosphäre abgegeben; dies nicht bevor Insekten ernährt und Wildtiere beheimatet zu haben. Der Baum ist aber nicht nur ein perfektes Beispiel für den Stoffkreislauf der Natur. Er sichert Hänge als Bannwald, bricht den Sturm, der über Land und Gebirge fegt. Er produziert Nutzholz, sein Harz ist zu einer Salbe verarbeitet entzündungshemmend und unterstützt gar die Heilung von Knochenbrüchen usw. Der österreichische Förster Erwin Thoma hat zur sanften Medizin der Bäume viel Erfahrungswissen von Menschen gesammelt, die mit diesen Naturheilprodukten in der Vergangenheit über die Runden kamen (und kommen mussten). Dazu gehört übrigens auch die Mistel, die je noch Baumart, auf der sie wächst, andere Eigenschaften entwickelt und andere Krankheiten bekämpfen kann.
Maximilian Moser steht für die wissenschaftlichen Belege, die es mittlerweile zuhauf zur sanften Medizin der Bäume gibt: beispielsweise über die antibakterielle Wirkung von Holz. Heute weiss man, dass gewisse Hölzer bedenkenlos auch in Kliniken eingesetzt werden können, weil Bakterien auf Holz schneller sterben als auf Plastik oder Glas, die auch wegen antibakteriellen Wirkstoffen beispielsweise in Kiefern, Lärchen oder Eichenholz. Oder man kann beweisen, dass sich Wohnen in mit Holz ausgekleideten Zimmern beruhigend auf das vegetative Nervensystem und damit auf den Schlaf auswirken. Wer schon in Österreich in den Ferien war, kennt sicher die vielfältigen Zirbenprodukte (in der Schweiz Arven genannt), die dort angeboten werden. Unbedingt eines davon mitnehmen oder verschenken, sie senken die Herzfrequenz.