Die alte Frau und der Baum

Hibiskus-Baum

Blüte eines Hibikus-Baums (Bild: Canva)

Einige Tage, nachdem meine Mutter entschieden hatte, es sei sicher genug, die Wohnung zu verlassen, fällte sie einen Baum. Sie hatte kurz davor ihren 86. Geburtstag im ersten harten Corona-Lockdown gefeiert. Alleine. Sie hatte mehr als zehn Wochen mit niemandem physischen Kontakt. Wir telefonierten häufiger als sonst. Ich bestellte Lebensmittel für sie. Aber eben, es gab keine gemeinsamen Osterfeiertage. Dann einige Tage nach Aufhebung des Lockdown die folgende Erzählung: Alte Frau fällt Baum.

Im Verlauf der Wochen hatte sie mir von den Ereignissen in Bergamo, dem langen Zug von Fahrzeugen mit den Särgen drin, die bei Nacht fortgeschafft worden waren, erzählt. Sie sprach voller Bewunderung über Staatschef Conte. Obwohl sie seit über 50 Jahren in der Schweiz lebt, war sie in diesen Wochen in erster Linie eine gehorsame italienische Staatsbürgerin und hielt sich an alle Regeln (der damaligen Kunst). Vom Fenster und vom Balkon aus hatte sie einen Blick auf die langsam erwachende Natur vor dem Dreifamilienhaus und auf den Pflanzplätz im Hinterhof.

Alte Frau fällt Baum

Sie habe den Hibiskus, der sie an Höhe überragte, mit der Säge umgelegt und das tief verankerte Wurzelwerk mit Pikel und Schaufel ausgegraben. Alles zerhakt und alleine die steile Kellertreppe hinauf zum Hochparterre getragen – zum Trottoire vor dem Haus, für die Grünabfuhr. Sie habe wohl etwas Verrücktes getan, meinte sie, für Tage danach hätten ihre Knie gebrannt, heiss wie Feuer. Das eine Knie war wegen einer Arthrose vor etlichen Jahren operiert worden. – Aber der Stolz in ihrer Stimme – er war unüberhörbar.

Fast so lange wie sie in der Schweiz lebt, hatte meine Mutter einen Familiengarten auf dem Bruderholz. Er war ihr ein und alles gewesen, ihr Refugium, wie sie ihn gerne nannte. Diesen hatte sie altersbedingt aufgegeben, geblieben war ihr der Pflanzpätz im Hinterhof. Warum um alles in der Welt hatte sie aber den armen Hibiskus umgelegt? Später mit mehr Ruhe erklärte sie mir, er habe den andern Pflanzen das Licht geraubt, sie nicht leben lassen, habe häufig Läuse gehabt… Ok. Trotzdem?!

Teenager und Hemingway

Als Teenager hatte ich zu später Fernsehstunde „Der alte Mann und das Meer“, die Hemingway Romanverfilmung, gesehen. Wie Spencer Tracy von seinem grossen Fang, diesem (vermutlich!) grössten Fisch seiner Lebzeit immer weiter hinaus in Meer gezogen wird. Wie der alte Mann die Fischleine nicht durchschneidet, um sich zu retten, wie er stattdessen bis zur Erschöpfung kämpft, nur um schliesslich im heimatlichen Hafen anzukommen – den Fisch noch am Angelhaken, oder eher dessen Gerippe, kaum mehr Fisch daran.

Die 14-Jährige war, wenn ich mich richtig erinnere, etwas gelangweilt von Tracy. In jener Zeit las sie manchmal Romane oder schaute sie Filme, weil eine zukünftige Bildungsbürgerin ihren Hemingway irgendwann mal gelesen haben musste. Das Ringen, das Einnicken im kleinen Boot, die verbrannte Haut, das niemals Loslassen wollen und können… letztlich blieb der Teenager nur, weil sie das Ende der Geschichte sehen wollte.

Die alte Frau und der Baum

Heute, zu Beginn der bereits dritten Welle, kann ich die Wut meiner Mutter verstehen. Dieses: „In meinen Garten lasse ich mir nicht dreinreden.“ Zehn Wochen stillsitzen, der Pflanzplätz hinter dem Haus eher ein Versprechen für die Zukunft als ein Trost für das Hier und Jetzt. Da raubt dieser Baum doch einfach den andern das Sonnenlicht. Mal wieder zeigen, dass noch Kraft in einem steckt, sich wieder lebendig fühlen, auch wenn später die Knie später brennen. Das war es wohl wert.

Siehe dazu auch meinen Podcast Episode: Warum Gärtnern entspannt.

About the Author
Seit Dezember 2020 veröffentlicht Claudia Acklin alle drei Wochen eine Episode ihres Podcasts. "Nature and the city - Die Natur und Stadt" beschäftigt sich mit Stadtökologie, Biodiversität und dem Klimawandel und dessen Auswirkungen auf die Stadtbewohner. - Claudia Acklin studierte Designmanagement, Sozialpädagogik und Journalismus und arbeitete mehr als 12 Jahre als Journalistin und Dokumentarfilmerin. Bis 2015 war sie hauptsächlich im Bildungs- und Forschungsbereich tätig und entwickelte neue Studiengänge wie den BA Design Management, International (DMI) oder eine Forschungsgruppe zu Design Management und Design Innovation an der Hochschule Luzern - Design & Kunst. Sie ist Gründungsmitglied des Vereins "Swiss Design Transfer", einem regionalen Zentrum für Designpromotion und -unterstützung für KMU. Und sie war die Gründerin und erste Geschäftsführerin des Creative Hub, einer Plattform zur Unterstützung von Start-ups im Schweizer Designsektor. Sie hat einen Doktortitel in Design von der Lancaster University/Imagination mit besonderem Schwerpunkt auf Innovation und Designmanagement. Von 2016 bis Mitte 2022 war sie die Leiterin der Geschäftsstelle der ausserparlamentarischen Kommission Schweizerischer Wissenschaftsrat SWR: **************** Since December 2020, Claudia Acklin publishes an episode of a podcast every three week. "Nature and the city" deals with urban ecology, biodiversity and climate change and the implications of the latter for citizens living in cities. - Claudia Acklin studied design management, social pedagogy and journalism; she worked for more than 12 years as a journalist and documentary filmmaker. Until 2015, she has mainly been working in the educational and research field and developed new study programmes such as the BA Design Management, International (DMI) at Lucerne School of Art and Design or a research group on design management and design innovation. She also is a founding member of the association “Swiss Design Transfer”, a regional centre for design promotion and support for SMEs. And she was the founder and first managing director of the Creative Hub, a platform to support start-ups of the Swiss design sector. She holds a PhD in design from Lancaster University/Imagination with a special focus on innovation and design management. From 2016 until mid 2022 she was the head of the secretariat of the extra-parliamentary commission Swiss Science Council SSC.